Kurioses zur ukrainischen "National"-Geschichte

Offensichtlich ist den Ukrainern - zumindest aber ihren politischen und militärischen Anführern - selbst das Wenige nicht geläufig, was man als ukrainische "National"-Geschichte bezeichnen könnte.

So entblödete man sich nicht, der 92. Sturmbrigade den Patronats- resp. Ehrennamen "Iwan Sirko" zu verleihen, womit die Truppe ganz offiziell in der ukrainischen Sprachversion 92-га окрема штурмова бригада імені кошового отамана Івана Сірка heißt. Wissen die wirklich nicht, wer Iwan Sirko war und welche Rolle er als Ataman der Saporoscherer Kosaken spielte? Wie Ataman Sirko ausgesehen haben könnte, hat Ilja Jefimowitsch Repin in seinem berühmten Gemälde "Die Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief" nachempfunden. Hier der Selenskij-Ukas 618/2019 zur Namenverleihung: https://www.president.gov.ua/documents/6182019-29185

Iwan Sirko kam 1654 in die Saporoscher Sitsch. Im Jahr 1659 kämpfte er gemeinsam mit dem russischen Fürsten Alexei Trubezkoi gegen die Krim-Tataren. Im Jahr 1663 wurde Sirko zum Ataman der Saporoscher Kosaken gewählt und gewann in Allianz mit Russland mehrere Schlachten gegen Polen, Krimtataren und den Hetman Petro Doroschenko, der unter polnischer Herrschaft stand. 1670 leistete Sirko dem russischen Zaren Alexei I. einen "Heiligen Treueeid", danach eroberte er die osmanische Festung Otschakiw. 1673 kämpfte Sirko erneut im Dienst des Russen Zaren gegen Tataren und Türken und nahm er die Festung Arslan sowie zum zweiten Mal die Festung Otschakow ein. 1675 besiegten die Saporoscher Kosaken die Osmanen in einer großen Schlacht. Ein Fun Fact am Rande - trotz seiner Niederlage gegen Sirkos Kosaken verlangte Sultan Mehmed IV. ihre Unterwerfung unter die Herrschaft der Osmanen. Der Überlieferung zufolge antworteten die Kosaken auf ihre Weise mit einem extrem beleidigenden und obszönen Antwortbrief. Diese Überlieferung (oder vielleicht auch Legende) inspirierte Repin zu seinem Gemälde.

Warum also wählen die militärischen Anführer der Ukraine ausgerechnet den Namen eines Verbündeten des Russischen Reiches, eines russophilen Kosaken, der dem Zaren Treue schwörte, als Ehrenname für eine Eliteeinheit, die besonders in den letzten Monaten mit dem Einsatz von Drohnen bekannt wurde? Nun gut, möglicherweise spielte die Überlegung eine Rolle, dass man nicht alles und jedes nach Stepan Bandera benennen kann, was insbesondere bei einer militärischen Einheit dieser Größe und medialen Präsenz in Hinsicht auf die ersehnte NATO-Mitgliedschaft möglicherweise nicht ganz so gut herüberkäme. Oder ist die Personaldecke "rassisch reiner" ukrainischer "National"-Helden - wenn man die Nazi-Kollaborateure subtrahiert - noch dünner, als ich eh schon vermutete? Oder ist das etwa als ein vorsichtig in Richtung Russland gewedeltes, weißes Fähnchen zu verstehen? Man weiß es nicht.

Bemerkenswert ist im Übrigen der ukrainische Wikipedia-Artikel zur Brigade, in dem beginnt die Geschichte der Brigade nämlich erst im Jahr 2000. Man kann sich von dort aus nur über, nun ja, dezent platzierte Links von Etappe zu Etappe über mehrere Ecken im ukrainische Wikipedia durch die Geschichte der Brigade hangeln. https://uk.wikipedia.org/wiki/92-га_окрема_штурмова_бригада_(Україна) In der englischen Version erfährt man sofort, dass die Geschichte der Brigade am 26.02.1920 als 48. Schützendivision der Roten Armee begann. https://en.wikipedia.org/wiki/92nd_Assault_Brigade_(Ukraine)

Ein Grund dafür dürfte die als "Dekommunisierung in der Ukraine" großangelegte Geschichtsrevision resp. Umschreibung der Geschichte des Landes sein. Ein anderer Grund ist sicher der Versuch, den schwarzen Fleck in der Geschichte die Brigade zu tarnen, denn die spielte als 138. Schützendivision bei der Besetzung Estlands im Gefolge des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23.08.1939 bzw. des geheimen Zusatzprotokolls dieses Vertrages und bei der Besetzung Kareliens (Schlacht von Summa, Dezember 1939 und Februar 1940) im russisch-finnischen Winterkrieg (30.11.1939 bis 13.03.1940) eine eher unrühmliche Rolle. Also breitet man den Mantel des (Ver)Schweigens darüber aus und plärrt Слава Україні! Möglicherweise ist die Namensgebung das Resultat dieser o.e. Geschichtsrevision in der Ukraine und man weiß dort mittlerweile selbst nicht mehr, wie ihre Geschichte tatsächlich aussieht.

Anmerkungen:

  1. In den deutschen Leit- und Qualitätsmedien, bekannt für ihre kompetente Recherche, geistert die Brigade immer noch als 92. separate mechanisierte Brigade durch die Texte, allerdings wurde die schon im August 2023 zur 92. Sturmbrigade restrukturiert.

  2. Im deutschen Sprachraum werden sie i.d.R. als "Saporoger Kosaken" transkribiert, was aber zu hinterfragen ist. Im russischen Original nannten die sich Запорожские казаки mit ж, einem stimmhaften oder "weichen" sch in der Mitte, also Saporoscher Kosaken. Begründet wird das G im Vergleich mit z.B. Garage oder Genie, was man allerdings auch anders sehen kann, denn keiner, der die Geschichte und die russische Sprache nicht kennt, wird das G in "Saporoger Kosaken" als sch sprechen. Schwierig ist das deshalb, weil das Ж in keiner anderen Sprache eine Entsprechung hat. Für sch statt g spricht einerseits also die Lese- und Sprechfreundlichkeit, andererseits aber auch die Tatsache, dass die aus der Sitsch hervorgegangene Stadt Запорожье ebenfalls mit sch als Saporoschje transkribiert wird.

  3. Eine Sitsch war in Russland vom 15. Jahrhundert bis zur gezielten Besiedelung dieser Region ab etwa 1760 durch Katharine die Große eine Siedlung landloser, aus der Leibeigenschaft geflohener Bauern, die sich im kaum besiedelten und quasi herren- und herrschaftslosen Steppenland am Unterlauf des Dnjeper niederließen. Eine Sitsch war als Gemeinwesen de facto ein Protostaat

  4. Der Unterschied zwischen einem Ataman, auch Otaman, und einem Hetman bestand - sehr kurz gefasst - darin, dass der Ataman das gewählte Oberhaupt einer Kosaken-Sitsch und deren oberster Feldherr war und der Hetman zweithöchster Feldherr unter dem Oberbefehl eines Königs.

  5. Leserinnen und Leser, die das militärische Innenleben nicht aus eigener Erfahrung kennen (ich meine hier Armeen, zeitweises Abhängen in der Bundeswehr zählt also nicht) mögen sich jetzt fragen, warum der Patronatsname einer Einheit von solcher Relevanz ist, dass ich mich hier diesem Thema widme. Der Patronats- resp. Ehrenname ist für Armeen in ihrer Traditionslinie von großer, weil identitätsstiftender und damit nach innen verbindender Bedeutung, bekannte Beispiele sind die verschiedenen Waffengattungen des US-Militärs (Army, Navy, Air Force), die alle ihren jeweils eigenen Traditionslinien folgen, zu denen auch Regimentsflaggen und Patches gehören. Ebenso in der Roten Armee und den Streitkräfte der Russischen Föderation (mit derselben Gliederung in Teilstreitkräfte wie das US-Militär), wobei die Streitkräfte Russlands im Wesentlichen die Traditionslinie der Roten Armee inklusive des roten Sterns übernommen haben.

    In der NVA der DDR hatte man da ein Problem. Die NVA sah sich sehr wohl in der Tradition der Wehrmacht, ohne die Last der Geschichte tragen zu wollen - der Staats- und Parteiführung schwebte eine einerseits deutsche, andererseits sozialistische Armee vor. Also wurden bestimmte Traditionen einfach übernommen, zum Beispiel die Tages- und Paradeuniformen, die weitestgehend denen der Wehrmacht inklusive Breeches und Stiefel für Berufssoldaten glichen. Ebenso wurden die Exerzier- und Paradierreglements und die Methode, Rekruten innerhalb der Großregion (in der DDR Bezirke) einzuberufen übernommen. Der ungewöhnlich aussehende und im Westen gerne belächelte, aber überaus praktische NVA-Stahlhelm wurde ab ca. 1940 am Institut für Wehrtechnische Werkstoffkunde in Berlin entwickelte und befand sich seit 1943 in der Wehrmacht in Erprobung, es kam aber aus den bekannten Gründen nicht mehr zu seiner Einführung als Standardhelm der Wehrmacht.

    Schwieriger war das mit den Ehrennamen, da griff man bis ca. 1980 ausschließlich auf deutsche und auch einige internationale Kommunisten zurück, was aber schwer in die Traditionslinie zu integrieren war, hier eine ziemlich vollständige Liste der NVA-Traditionsnamen. Mein Regiment trug den Namen "Max Roscher", das war ein KPD-Funktionär in der Weimarer Republik und ein Kämpfer in den Internationalen Brigaden gegen General Franco im Spanischen Bürgerkrieg (Juli 1936 bis April 1939). Hier Bilder von der Verleihung des Ehrennamens: https://www.msr-7.de/Galerie/VerleihEhrenname01.htm und hier ein Bild vom Ehrenmal für Roscher auf dem Regimentsgelände. Natürlich kannte niemand Max Roscher und er interessierte auch keinen und so war es ebenso mühselig wie sinnlos, den Wehrdienstleistenden und Zeitsoldaten in den Politschulungen verklickern zu wollen, warum wir alle wahnsinnig stolz sind, mit unsere Regiment dessen Namen tragen zu dürfen. Ab ca. 1980 besann man sich der preußischen Militärtradition - insbesondere jener aus der Zeit des Vierten (1806/1807) und des Sechsten Koalitionskrieges (1813/1814) - und so gab es Ehrennamen wie Jagd­bomben­flieger­geschwader 77 "Gebhard Lebebrecht von Blücher" in Laage, Kampf­hub­schrauber­geschwader 3 "Ferdinand von Schill" in Cottbus, Kampfhubschraubergeschwader 5 "Adolf von Lützow" in Basebohl, Motorisiertes Schützenregiment 29 "Ernst Moritz Arndt" in Hagenow und das Ausbildungszentrum 19 "Carl von Clausewitz" in Burg. Hätte es die NVA länger als bis 1990 gegeben, hätte sich diese Tendenz sicher fortgesetzt.