Zum Gedenken an den 22. Juni 1941

Mein Vater - damals 17 Jahre alt - wurde am 24.08.1944 direkt aus dem Reichsarbeitsdienst in den Wehrdienst eingezogen und in Weißenfels als Schütze 1 am MG 42 ausgebildet. Am 26.01.1945 stieß die 4. Gardepanzerarmee der Roten Armee nördlich von Breslau bei Steinau über die Oder und südlich von Breslau bildete die 5. Gardearmee gleichzeitig einen Brückenkopf westlich der Oder bei Ohlau, also schon tief im Reichsgebiet.

Am 27.01.1945 wurde das Regiment meines Vaters an diesen Frontabschnitt einige Kilometer südlich von Ohlau verlegt. Dabei ergab es sich, dass die Kompanie meines Vaters am Südende eines Dorfes vor Ohlau lag, während rund 500 Meter nördlich eine sowjetische Einheit am Nordende desselben Dorfes Stellung bezogen hatte. Aus dieser Lage entstand folgende Situation:

"Wir betraten ein Gehöft, die Hühner stoben mit lautem Getöse auseinander, es hatte jedoch keinen Sinn, Geflügel mitzunehmen, denn mit unseren Möglichkeiten hätten wir sie sowieso nicht zubereiten können. Außerdem wäre es uns sicher nicht gelungen, sie einzufangen, sie waren so verängstigt, dass die sofort wegflatterten, wenn man sich ihnen näherte. Wir suchten Konserven und die wurden gewöhnlich im Keller gelagert, also stiegen wir in den Keller. Er bestand aus mehreren Räumen, ich suchte gleich im ersten Raum und Rolf ging in den nächsten.
Plötzlich hörte ich Schritte, ich blickte zur Treppe - jemand kam langsam die Treppe herab. Ich sah zuerst nur die Beine mit den Stiefeln, es waren russische Stiefel, dann sah ich an der Uniformhose, dass es tatsächlich ein Russe war. Das alles spielte sich wie in der Zeitlupe ab. Ich war wie gelähmt, unfähig mich zu bewegen, ich weiß nicht, ob mein Herz überhaupt noch schlug. Jetzt sah mich der Russe, er hatte keine Maschinenpistole und kein Gewehr bei sich, ich glaube, er hatte nicht einmal eine Pistole. Als er mich sah, war er genauso erschrocken wie ich, er blieb erstarrt stehen, es waren bestimmt nur drei, vier Sekunden. Er starrte mich an, ich rührte mich nicht. Er stieg langsam rückwärts Schritt für Schritt die Stufen hoch und verschwand wie ein Geist. Ich hätte mich schnellstens in den anderen Raum in Sicherheit bringen sollen, denn eigentlich hätte jetzt kommen müssen, was wir an seiner Stelle getan hätten, nämlich ein oder zwei Handgranaten in den Keller geworfen. Aber er tat nichts.
'Hast du was gefunden?' hörte ich Rolf fragen.
'Ja, dort drüben stehen Gläser mit Fleisch.' antwortete ich, noch völlig benommen.
Rolf kam aus dem anderen Keller und sagte verwundert:
'Ist was, warum hast du deine Pistole in der Hand?'
Offenbar hatte ich sie unbewusst gezogen. Ich sagte:
'Nein, es ist nichts, ich habe sie bloß vorsichtshalber aus der Tasche geholt.'
Wir packten die Gläser ein, groß war unser Erfolg nicht, und machten uns auf den Weg zurück. Dieses Erlebnis werde ich nie vergessen, der Russe war sicher genauso erlöst wie ich, als alles vorbei war. Er war wahrscheinlich allein und suchte, genauso hungrig wie wir, nach Essen und mir dämmerte durch den Schleier jahrelanger Indoktrination durch die nationalsozialistische Propaganda, dass der Russe auf der Treppe ebenso ein Junge mit einem Zuhause, Eltern, Geschwistern wie ich war."

Bildbeschreibung, die Originale habe ich Nachlass meines Vaters gefunden:
Oben von links nach rechts: Mein Vater als 17-jähriger in Weißenfels, die Rekruten waren gehalten, ein solches Foto für die Eltern oder Ehefrauen anfertigen zu lassen, es ist 4,5 mal 6 Zentimeter groß, daneben die Rückseite des Fotos. Rechts: Mein Vater im Winter 1947 im Lager Rjasan, er schreibt dazu in seinen Lebenserinnerungen: "Als ich wieder einmal in der Stadt war, kam ich an einem kleinen Fotogeschäft vorbei, ging hinein und ließ mich fotografieren. Als ich die nächste Karte nach Hause schreiben durfte, nähte ich eins der Bilder an die Karte." Unten: Die Entlassungsscheine meines Vaters aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft vom 22.04.1949 in russischer und deutscher Version.