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Apokalypsis - Apokalyptik
Erörterung diverser Perspektiven der Rezeption apokalyptischer Texte

Die Medien sind - gerade derzeit wieder besonders intensiv - voll von apokalyptischer Metaphorik. Politiker aller Couleur, Naturwissenschaftler der verschiedensten Fachsparten, Geistliche aller Großkirchen usw., die ihre politisch, wissenschaftlich, moralisch oder ökologisch verbrämten Untergangsszenarios versenden lassen.

Filme mit Katastrophen- und Untergangsthemen erscheinen jährlich dutzendweise - der Endzeitfilm mit Klassikern wie der Mad-Max-Trilogie, den Terminator-Filmen, dem Alien-Vierteiler, bildet ein eigenes Genre - und in der Rockmusik befassen sich ganze Stilrichtungen wie Death und Black Metal damit. Aber das ist keineswegs ein Phänomen der modernen Konsumgesellschaft, die vielfältigen Möglichkeiten der Medien tragen es lediglich weiter und tiefer in die Gesellschaft, als das früher möglich war, sondern es begleitet uns strukturell in dieser Form seit mindestens 100 Jahren. Warum ist das so?

Ich sage Euch die Wahrheit, das ist nicht nur das Ende von diesem, sondern auch und zuerst von jenem, es ist das Ende der Geschichte, das Ende des Klassenkampfes, das Ende der Philosophie, der Tod Gottes, das Ende der Religionen, das Ende des Christentums und der Moral (was die größte Naivität war), das Ende des Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende des Abendlandes, das Ende des Ödipus, das Ende der Welt, Apocalypse now, ich sage Euch, in der Sintflut, dem Feuer, dem Blut, dem erderschütternden Beben, dem Napalm, das aus Hubschraubern vom Himmel fällt, so wie die Prostituierten, und dann auch das Ende der Literatur, das Ende der Malerei, der Kunst als Sache der Vergangenheit, das Ende der Psychoanalyse, das Ende der Universität, das Ende des Phallozentrismus und was weiß ich noch alles.

So kolportierte Jacques Derrida den Endzeit-Hype, als er sich Mitte der 80iger des letzten Jahrhunderts mit apokalyptischen Thematik befaßte (Jacques Derrida: "Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Graz und Wien 1985). Nun ist es freilich leicht und ebenso wohlfeil, über des mediale Narrenschiff der Eitelkeiten, den immer wieder auf das Neue erstaunlich debilen Reigen medial vervielfältigter Propheten, Mahner und Wunderheiler (und all jener penetrant-rechtgläubigen "Realisten", die schon immer für die "Aufkläung", oder was sie halt darunter verstehen, stritten), über die notorischen Gäste auf Parties und am Stehbuffet, die beim Essen ihren schleichenden Tod durchs Essen ventilieren, zu spotten Es gibt Leute, die nicht ohne Grund sagen, die Apokalypse sei eben die Plage, von der sie erzählt. Aber es ging Derrida auch nicht um Spott, sondern um die allenfalls sarkastische Untermalung seiner im Aufsatztitel zitierten Behauptung "vom neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie".

Was ist damit gemeint? Nun, mit dem Diagnostzieren dieses Tons ist nicht der feststellende Sprechakt, sondern eine strukturell konotierende Sprechweise gemeint. Ein solcher Satz: "Das Ende ist da" muß zweifelsfrei inkonsistent, weil widersprüchlich sein, wenn er von jemandem gesprochen wird, der selbst zu dem gehört, was angeblich zu Ende schon sein soll. Er ist im Grunde unsagbar, es sei denn, er wäre von einer Position aus gesprochen, die jenseits des Endes läge, von der Position der Errettung, Erlösung und Erwählung aus. Zwar gibt es in den klassischen Apokalypsen in der Tat einen einen solchen Ort, das himmlische Jerusalem, den Himmel, den Altar Gottes oder wie sonst er bezeichnet wird. Aber dieser Ort kann von keinem diesseitig in Sprechakten agierenden Menschen eingenommen werden. Von einem apokalyptischen Ton in Derridas Sinne zu sprechen heißt also, daß es sich hierbei nicht um kognitiv verifizierbare Aussagen handelt, die man von einem ansonsten als sinnvoll angesehenen Sprechen erwartet, sondern um quasi Projektion einer Art Atmosphäre in Sprechakte, mithin um Töne, Stimmungen und Timbres, von denen die Sätze moduliert sind. "Das Ende ist nahe herbeigekommen" - diese so oder ähnlich formulierte Aussage, welche - weil nicht verifizierbar - ebenso wahr wie falsch sein kann, und die quasi das Gegenwärtige vom kommenden Ereignis her schon determiniert erscheinen läßt, liegt seit gut 2000 Jahren über unserer westlichen Kultur. Der Ton apokalyptisch modulierter Sprachweise stellt sich in diesem Kontext strukturell folgendermaßen dar: Der gesamte ontologische Raum von Sein und Welt wird ohne kognitive Leistung, lediglich kraft intuitiver Imagination oder visionärer Exaltation, die nicht das Feld der Kognition nicht analytisch quasi durchschreitet, sondern selbiges sozusagen "überfliegt", als grandioses Finale ausmalt und auf einen Ton einstimmt, der sich solcherart durch Intuition und Vision über Analyse und Vernunft erhebt.

Im Folgenden nehme ich einen nicht näher spezifizierten Wahrheitsbegriff an, dessen Verständnis axiomatisch gesetzt rein ethymologisch geprägt sein soll, und zwar deshalb, weil sämtliche den Wahrheitswert bestimmenden Kriterien für die nachfolgende Betrachtung irrelevant sind. Demzufolge ergibt sich für wahr, vom mhd. und ahd. wär stammend und mit dem lat. verus und dem air. fir urverwandt; sowie im Sinne von vertrauenswert zu der idg. Wurzel *uer- gehörend, eine Bedeutung im Sinne von Gunst, Freundlichkeit (erweisen), vertrauenswert und eine direkte, ethymologische Verwandtschaft zu wära = Vertrag, Treue, woraus sich auch bewähren = beweisen, als geeignet, richtig erweisen ableitet.

Apokalypse geht auf das griechische apokálypsis zurück, das sich - gebildet aus apó, was "von", "weg" bedeutet, und dem "verhüllen", "verdecken" meinenden kalýptein - von apokalýptein herleitet. Somit heißt Apokalypse zunächst nicht Untergang oder Weltende, sondern Offenbarung, Enthüllung, Aufdeckung der Wahrheit. Ein Enthüllen der Wahrheit setzt eine verborgene Wahrheit voraus, also eine Wahrheit, die zwar da ist, aber nicht zutage tritt, die geheim und nicht öffentlich ist und der Offenbarung resp. Aufdeckung bedarf. Warum dies - das Vedecktsein der Wahrheit - so ist, kann viele Gründe haben. Man mag sie nicht sehen wollen, sie vergessen oder verdrängt sein, sie mag schwer oder gar nicht erträglich, un- oder übermenschlich sein oder sie übersteigt das Maß der an Vernunft gebundenen Einsicht. Möglicherweise aber sie ist gefährlich oder sie ist eine Sache der Verfolgten, Minderheiten oder Wenigen. Im Gegensatz zur Methodik der Wahrheitsfindung in der westlichen Tradition von Platon bis Habermas ist die apokalyptische Wahrheit nicht das Ergebnis eines wie auch immer gearteten Diskurses, sondern sie ist in der Tradition des jüdisch-christlichen Synkretismus ein dramatisches Geschehen, dessen tragende Motivation nicht die Vernunft ist und dessen Ergebnis nicht von im Diskurs Agierenden bestimmt wird. Die apokalyptische Wahrheit geht sozusagen aufs Ganze, sie greift tief in die Essentials der Geschichte, mit denen den Menschen ihren letzten und angemessenen Platz zugewiesen wird. Wohl auch deshalb wirkt das apokalyptische Reden der Wahrheit roh, unkontrolliert, radikal und niemals begrifflich, sondern in Kaskaden von niemals ad hoc plausiblen, aber dafür um so poetischeren und magisch-ästhetischeren Bildern berichtend, dabei alternierend zwischenden den Extremen menschenmöglicher Gefühle - zwischen Rache, Haß, entfesselte Wut, bestialische Grausamkeit einerseits und Liebesbezeugungen, leidenschaftliche Hingabe und Opferbereitschaft andererseits.

Diese apokalyptische Sprache drückt sich, formallogisch betrachtet, in All-Operatoren aus: Sie durchläuft in Hinsicht auf den Inhalt die Summe aller Ereignisse, die in quantitativer Hinsicht als Adressaten alle früher, jetzt und künftig Lebenden umfassen. Bei Johannes zum Beispiel bedeuten die sieben, seine Botschaft empfangenden Gemeinden aufgrund der Vorstellung von der Sieben als eine die Vollständigkeit aller Zahlen enthaltende Ziffer alle überhaupt denkbaren Empfänger. Diese apokalyptische Sprache ist esoterisch und exoterische zugleich und in sich unterteilt in Gesagtes und Ungesagtes. In der fast atemlos vorgetragenen Visionsabfolge des Johannes mit den sieben Siegeln, Posaunen und Schalen gibt es mit den sieben Donnern eine explizit als Schweigen metaphorisierte Passage und mit der Öffnung des siebenten Siegels eine Vision, die in einem halbstündigen Schweigen des gesamten Universums besteht. Diese quasi Schweigezonen konstituieren eine Arkanität von hermetischer Qualität, durch die das Unsagbare und damit Verschwiegene gekennzeichnet wird. Im Grunde ist der gesamte poetische und metaphorische Stil der Differenz zwischen Sagbarem und Unsagbarem geschuldet.

Den Begriff Apokalyptik gibt es in dieser Form und Verwendung erst seit etwa 150 Jahren zur Bezeichnung einer Literaturgattung, die sich in jeweils ca. 200 Jahren vor und nach der Zeitrechnung im Umfeld der isrealitischen, frühchristlichen und antiken Traditionen herausgebildet hat. Dabei verwendet die Johannes-Offenbarung als Hauptwerk dieser Literaturgattung den Ausdruck Apokalypsis nicht im heutigen Sinne als Bezeichnung für Katastrophe oder Weltuntergang, sondern als Charakterisierung eines Channelings der Schrift, die von Gott selbst Jesus Christus mitgeteilt wurde und von letzterem durch einen Engel an Johannes weitergetragen wird, der darob in einen Zustand von Verzückung und en pneumati (Geist, Hauch, siehe Apokalypse 4,2) fällt und später die solcherart göttliche Mitteilung per Brief an die besagten sieben kleinasiatische Gemeinden geschickt. Damit bezeichnet Apokalyptik jene Literaturformen, in denen der Autor nicht aus eigener Entscheidung schreibt, sondern der Schreiber einer göttlichen Schrift ist. Damit ist im Grunde auch das Liber Al vel Legis der Kategorie der apokalyptischen Schriften zuzuordnen und ähnlich den alttestamentarischen Prophetenberufungen und der Johannes-Offenbarung manifestieren die Sprachzeichen des Liber Al vel Legis die Gegenwart des Wesens der Sache, also dessen, was geschehen muß.

An dieser Stelle sei auf einen bemerkenswerten Aspekt hingewiesen. Johannes war ein Verfolgter und Gefolterter, und er sandte seine Offenbarung von der Insel Patmos, auf die er deportiert wurde, den bedrängten Gemeinden Kleinasiens in ihrer Not. Die Apokalypse nimmt den Ton der volkstümlichen, alttestamentlichen Propheten auf - gegen die Cliquen und Schriftverwahrer in den Tempeln und steht damit in der Tradition von Trauer und die Hoffnung des des unter Tyrannei leidenden Volkes Israel, indem sie gegen die kontrollierte und gesetzte Rede der Herrschenden diese sprachgewaltigen, poetischen Bilder benutzt, die an Herz und Verstand der Bedrängten und Verfolgten rühren. Ihnen gibt die Apokalypse Hoffnung, daß sie, die jetzt in Angst und Unterdrückung leben, nach dem apokalyptischen Kunlminieren der Geschichte, zu den Geretteten, ja daß sie dann zur Elite, den Auserwählten gehören mögen. Die apokalyptische Rede negiert radikal das Gewaltmonopol des Staates und der Herrschenden und erlaubt, in grandiosen Rachephantasien den Untergang einer als sinnlos, verkommen und tyrannisch empfundenen Gesellschaft zu feiern. Die alte Welt soll untergehen, hier wird Apokalypse zum Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Ende des Bestehenden.

Mit dem Beginn der Moderne wurde apokalyptischem Denken und Glauben Aufklärung, Rationalität und Fortschrittsglaube entgegengesetzt. Im Grunde will die Moderne die radikale Anti-Apokalypse sein, doch die Apokalypse-Angst in ihrer "irrational" panischen Angst vor dem Ende, die Apokalypse-Hoffnung in ihrer wüsten Untergangslust und zugleich wütenden Haß auf die zwar nicht eben perfekten, doch aber ganz akzeptablen Errungenschaften dieser Gesellschaft blieben bis heute der antagonistische Widerpart zu aufklärerischen Moderne und suchen diese immer wieder mit Vernichtungsvisionen heim. Das Paradoxe an diesem Verhältnis ist, daß die Aufklärung mit der Revolutionierung der Wissenschaften und der Durchsetzung kapitalistischen Wirtschaftens eben diesen Visionen immer neue Spektren ermöglicht. Chemie- und Biowaffen, Atombombe, Gentechnologie, Wirtschaftsimperialismus mit rücksichtsloser Ausbeutung und zugleich kontinuierlicher Vermüllung des Planeten und nebst Verelendung und Verslumung, marodierende Terroristen und Hitech-Armeen ermöglichen Untergangsszenarien, die heutige Apokalyptiker über Johannes müde lächeln lassen. Als Reflex darauf hat sich im philosophisch-künstlerischen Amüsierbetrieb dieser Gesellschaft eine Art Ästhetik der Erhabenheit im Untergang etabliert, welche über die Verführung wirkt, der Angst vor dem Ende dadurch zu entkommen, daß man es selbst herbeiführt. Das Ergebnis wäre, die Erde als grandioses Denkmal der eigenen Superpotenz durchs All ziehen zu lassen. Die der Menschen entledigte Erde als großer Satellit, der nur eine Botschaft versendet: Das, was die Möglichkeiten menschlicher Vorstellungskraft überforderte, haben wir, uns selbst überbietend, trotzdem in Szene setzen können, und zwar gründlichst. Es ist ja wohl auch kein erhabeneres "Kunstwerk" denkbar als eine von Menschenhand vom Menschen befreite, stumme Erde.

[geschrieben 04/2003]