"Denken ohne Geländer" - Hannah Arendt

Es wäre viel gewonnen, wenn wir das bösartige Wort "Gehorsam" aus dem Vokabular unseres moralischen und politischen Denkens streichen könnten. Wenn wir diese Fragen durchdenken, könnten wir ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und sogar Stolz zurückgewinnen, das, was frühere Zeiten die Würde oder die Ehre, vielleicht nicht der Menschheit, so doch des Menschen, genannt haben.
Hannah Arendt

Wenn schon die Charakteristik des "schlechten" Gewissens das ursprüngliche Phänomen nicht erreicht, dann gilt das noch mehr von der des "guten", mag man es als eine selbständige Gewissensform nehmen oder als eine in dem "schlechten" wesenhaft fundierte. Das "gute" Gewissen müßte, entsprechend wie das "schlechte" ein "Bösesein", das "Gutsein" des Daseins kundgeben. Man sieht leicht, daß damit das Gewissen, vordem der "Ausfluß der göttlichen Macht", jetzt zum Knecht des Pharisäismus wird. Es soll den Menschen von sich sagen lassen: "ich bin gut"; wer kann das sagen, und wer wollte es weniger sich bestätigen als gerade der Gute? An dieser unmöglichen Konsequenz der Idee des guten Gewissens kommt aber nur zum Vorschein, daß das Gewissen ein Schuldigsein ruft.
Martin Heidegger

Hannah Arendt und Martin Heidegger - die Geschichte dieser Liebe ist wohl deshalb so faszinierend, weil sich in ihr die beiden wohl bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts trafen - und in ihrer Liebe grandios an sich und an den Verhältnissen ihrer Zeit scheiterten. Diese Geschichte wurde oft erzählt und in den allermeisten Fällen kam Martin Heidegger ziemlich schlecht dabei weg. Nun, einerseits gehören zu solchen Geschichten immer zwei Personen und damit zwei individuelle Lebens- und Erfahrungswelten. Andererseits ist zu bedenken, daß Martin Heidegger trotz seines unübertrefflich brillanten Geistes ein Mensch war mit allen Schwächen, die Menschen nun mal so haben. So zeigt diese Geschichte exemplarisch, wie diese Schwächen Menschen, auch wenn sie geniale Denker sind, dazu bringen, sich den - in den allermeisten Fällen vermeintlichen, selten tatsächlichen - Zwängen der Opportunität zu unterwerfen. Für Hannah Arendt zeigte sich die Schwäche in ihrer übersteigerten Erwartungshaltung an Heidegger und ihrer offensichtlichen Unfähigkeit, über die reine Vernunft hinaus auch emotional zu verzeihen, was allerdings nicht nur Heideggers Opportunismus, sondern der für uns nur schwer vorstellbaren Dramatik ihres Lebens geschuldet ist.

Hannah Arendt und Heinrich Blücher - die Geschichte dieser Liebe ist wohl deshalb so faszinierend, weil sich in ihr die wohl bedeutendsten Denkerin und Philosophin des 20. Jahrhunderts und das politische Schicksal Europas in Gestalt eines Mannes trafen, der an diesem Schicksal gestalterisch teilhatte und die Denkerin zu ihrer genialen Synthese aus Phänomenologie und politischem Handeln in ihrer Philosophie - der Phänomenologie des Politischen - inspirierte. Ein Freund der Familie Arendt-Blücher beschrieb die beiden so: "Bei jeder Unterhaltung mit den beiden konne das Gespräch urplötzlich ins Deutsche wechseln und ein Ehestreit ausbrechen über irgendeinen philosophischen Gedanken, der völlig überraschend aufgetaucht war. Heinrich, die Pfeife zwischen den zusammengepressten Lippen, brummte seine Argumente heror, als kämpfte er auf einem Schlachtfeld gegen die starrköpfige Philosophin. Hannah hingegen konfrontierte dich mit der Wahrheit und mit ihrer Freundschaft."

Es soll hier versucht werden darzustellen, wie die Läufe der Zeit in ihren Umständen auf Menschern wirken, die in der Größe ihres Werkes eigentlich jenseits der Zeit stehen. Hannah Arendt, amerikanische Philosophin, Politologin und Schriftstellerin deutscher Herkunft, wurde am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren. International bekannt wurde sie vor allem durch ihre Arbeiten zum Totalitarismus. Im Alter von sieben Jahre wurde Hannah Arendt durch den Tod ihres Vaters Halbwaise. Ihre geliebte Mutter war häufig auf Reisen und jedesmal sorgte sich das Mädchen ob der Rückkehr ihrer Mutter und ängstigte sich, daß diese eines Tages ausbliebe. Als Hannah dreizehn war, heiratete Martha Arendt wieder. Hannah mußte ihre Mutter nun nicht nur mit einem Mann, sondern auch mit zwei älteren Stiefschwestern teilen. 1923 wird Hannah Arendt nach einem Aufruf zum Boykott des Unterrichts vom Gymnasium, der Luisen-Schule, verwiesen. Sie war von einem Lehrer wegen ihres Judentums beleidigt worden und griff zu diesem außergewöhnlichen Mittel, das einiges Aufsehen erregte. Sie holte das Abitur dann später nach. So gestaltete sich ihre Jugend einigermaßen turbulent, was bei ihr das Gefühlt von Schutz- und Hilflosigkeit nach sich zog: "Der blödsinnige, von Jugend anerzogene Zwang, vor aller Welt immer so zu tun, als ob alles in bester Ordnung ist, kostete den besten Teil meiner Kraft".
Nach Abschluß der Schule studierte sie Philosophie u. a. bei Edmund Husserl, Martin Heidegger und Karl Jaspers. Sie promovierte 1929 an der Universität Heidelberg über den Begriff der Liebe bei Augustinus. Als junge Studentin begegnete sie dem damals 35jährigen, verheirateten Martin Heidegger. Er war gerade dabei, "Sein und Zeit" zu schreiben und bereitete sich auf eine rasante Universitätskarriere vor.

Am 26. September 1889 erblickt in Messkirch (Baden-Württemberg) Martin Heidegger das Licht der Welt - er wird einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit werden. Das allerdings konnten sein Vater, der Meßner und Küfermeisters Friedrich, und seine Mutter Johanna (geb. Kempf) nicht ahnen. Der junge Martin will zunächst Priester werden und beginnt nach dem Abitur im Jahre 1909 ein Studium der Theologie in Freiburg im Breisgau, worin er von der katholischen Kirche finanziell unterstützt wird. 1911 jedoch ist sein Interesse am Priestertum soweit dahin, daß er Studien in den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie - hier begegnet er seinem Lehrer und Mentor Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie. Im Jahr 1913 promoviert er über das Thema "Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik". 1916 schließt er seine Studien mit einer Habilitation bei dem Neukantianer Heinrich Rickert ab. Im Jahr 1919 wird ihm von Edmund Husserl eine Stelle als sein Privatassistent angeboten, die Heidegger auch annahm. Mittlerweile seit 1917 mit der Ökonomiestudentin Elfriede Petri verheiratet, setzt sich Heidegger kritisch mit Husserls Phänomenologie auseinander. In diese Zeit fällt der Beginn seiner Freundschaft mit Karl Jaspers, die bis 1933 ungetrübt anhielt, später in Folge der divergierenden Lebenswege distanzierter wurde.

1923 folgte er dem Ruf als außerordentlicher Professor der Philosophie in Marburg, hier wandte er sich Kants Philosophie zu. Nach der Veröffentlichung seines Hauptwerk "Sein und Zeit" und der Begründung der Fundamentalontologie zur Aufhebung der traditionellen ontologischen Systeme seit Platon wird Heidegger 1928 als Husserls Nachfolger auf dessen Lehrstuhl nach Freiburg berufen, er folgt Husserl auch als Institutsdirektor nach.

Nach der Machteinsetzung der Nationalsozialisten erwartet Heidegger von denen den "Neubeginn des deutschen Schicksals" - was dann auch eintritt, allerdings anders, als Heidegger sich das erträumte. Er wird zunächst Mitglied der NSDAP, danach Rektor und schließlich "Führer" der Universität zu Freiburg, die er als Basis einer "neuen Besinnung" gestalten will. Die Herren Nationalsozialisten verfolgten allerdings andere Pläne und so zog sich Heidegger im Jahr 1934 von allen Funktionen zurück - er war der intriganten Politik der nationalsozialistischen Ersatzorganisationen zur Vortäuschung einer Zivilgesellschaft (zum Beispiel NS-Dozentenbund, NS-Studentenbund, NS-Altherrenbund, NS-Rechtswahrerbund usw.) und ihrer Organisationen zur gleichzeitigen Vernichtung der Zivilgesellschaft (zum Beispiel Prüfungskommission zum Schutz des NS-Schrifttums, Rassenpolitisches Amt der NSDAP usw.) nicht gewachsen und geriet mit seiner Ablehnung der Rassenlehre als grundlegende Ideen des Nationalsozialismus in Konflikt mit übergeordneten Instanzen.

Die Wurzeln von Heideggers Denken liegen ganz klar in der griechischen Philosophie, insbesondere Platon, Aristoteles und die Vorsokratiker haben Heideggers Art und Weise zu philosophieren maßgeblich geprägt. Doch auch der Einfluß des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard und von Friedrich Nietzsche auf Heidegger ist nicht zu unterschätzen - und natürlich der von Edmund Husserl.

Gliedern jedoch lässt sich seine Philosophie in drei zeitliche Phasen, in denen er sich mit dem Problem eines "Sinns von Sein" (1922-1933), der "Wahrheit des Seins" (1934-1946) und der "Ortschaft des Seins" (1947-1976) auseinandersetzte. Die erste Periode, die 1927 mit dem Erscheinen seines wichtigsten und einflussreichsten Werkes Sein und Zeit eingeleitet wurde, stand im Zeichen der Frage nach dem Sinn von Sein. Als bestimmende Existenzialien (Seinsweisen des menschlichen Daseins) stellte er dabei mittels eines eigens hierfür geschaffenen Vokabular mit eigener Semantik die "Befindlichkeit", die "Geworfenheit", die "Rede", die "Verfallenheit", das "Sein zum Tode", das "Gewissen" und die "Geschichtlichkeit" heraus. Die Grundverfassung des menschlichen Daseins ist das "In-der-Welt-sein". Dieses wird geprägt durch "Sorge". Bei der genauen Auslegung des "In-der-Welt-seins" als Existenz geht Heidegger von der alltäglichen Situation des Menschen aus. Dieser ist nicht bei sich selbst, sondern der Alltagswelt, der Routine und der Oberflächlichkeit der anonymen Masse verfallen. Die Grundstimmung des Daseins ist die Angst. Sie konfrontiert den Menschen mit der Gewissheit des Todes und der eigenen Vergänglichkeit. Erst dadurch wird jedoch für ihn der wahre Sinn des Seins und der Freiheit erfahrbar.
[adaptiert nach Josef Speck in „Grundprobleme der großen Philosophen; Philosophie der Neuzeit“, UTB, Stuttgart 1997]

Als Martin Heidegger auf die junge Hannah Arendt traf, verliebte er sich sofort in sie, wobei der Umstand, daß die kosmopolitische Jüdin, der ihr modisch-elegantes und für die dortigen Verhältnisse "exotisches" Auftreten im kleinen Universitätstädtchen Marburg nicht nur Sympathie einbrachte, auf den aus einem provinziell-ländlichen Umfeld stammenden Heidegger einen starken Reiz ausübte, der ihn schließlich bewog, sich mit ihr auf eine Beziehung einzulassen, die seine Ehe und nicht zuletzt seine Karriere hätte in Frage stellen können. Der ansonsten eher verschlosse Heidegger ließ sich in der Tiefe der offenbar bisher noch nie erlebten Gefühle sogar dazu hinreißen, ihr Liebesbriefe zu schreiben. Ihre kulturellen Interessen trafen sich in der gemeinsamen Begeisterung für Rilke, Thomas Mann, Bach und Beethoven und ihre Gesprächen über Plato, Sokrates und Heraklit blieben Hannah Arendt zeitlebens in Erinnerung - und beinflußten wesentlich ihre Sicht der attischen Philosophie. Tatsache ist aber auch, daß Heidegger - so abhängig er von Hannahs Liebe auch sein mochte - von Anfang an seine Dominanz als reifer Mann und nicht zuletzt Lehrer gegenüber der sehr jungen Frau und Schülerin ausspielte.

Heidegger hielt sich zunächst zwei Monate lang gegenüber seiner Studentin zurück, bis er sie in sein Büro einlud. Hannah Arendt war von der intellektuellen Brillanz absolut fasziniert und das Leuchten des Genialischen in den Worten und der Erscheinung des Bauernsohns mit dem breiten Dialekt ließ sie sich unwiderstehlich zu Heidegger hingezogen fühlen, ein einige Tage später von Heidegger verfaßter Brief deutet den Beginn eines intimen Verhältnisses an. Einerseits mag die Art und Weise, mit der er der Beziehung zu Hannah Arendt nachging und sich zugleich Familie und Arbeit widmete, auf eine zwar kraftvolle Persönlichkeit, egozentrische und skrupellos hinweisen, so jedenfalls sieht das Elzbieta Ettinger (siehe hier) in ihrem Buch "Hannah Arendt - Martin Heidegger. Eine Geschichte". Diese Art und Weise schloß aber auch ein aus heutiger Sicht hochkomisches Verhalten inklusive verschlüsselter Botschaften mit der an- bzw. ausknipsten Wohn- oder Arbeitszimmerlampe und minutengenauen Terminvereinbarungen der beiden Genies ein.

Hannah Arendt wiederum - obwohl sie bereits damals für ihre leidenschaftliche, mitunter auch exzentrische Unabhängigkeit bekannt war - durchschaute Heideggers Dominanzbedürfnis zunächst nicht. Ettinger versteigt sich in ihren o.g. Buch zu der Behauptung, Heiddegger habe es geschafft, Hannah Arendt "zu unterjochen". Ich denke, das ist schlicht Blödsinn. Es sollte nämlich einerseits berücksichtigt werden, daß für Hannah Arendt Heideggers Status als angehender Superstar der Philosophie, die Aura des genialen Denkers und nicht zuletzt des aus ihrer Sicht reifen Mannes eine nicht zu unterschätzende Rolle für ihre Zuneigung, mithin das Verhältnis gespielt hat, der letzte Gesichtspunkt dahingehend von einiger Bedeutung gewesen sein, indem Heidegger für sie resp. in ihrer Vorstellung die Rolle einer väterlichen Ersatzfigur annahm. Andererseits war Hannah Arendt zu diesem 19 Jahre alt und mithin eine zwar junge, aber eben auch erwachsene Frau und als solche hätte ihr klar sein können, daß bei einem Mann, der seine Frau in dieser Weise hintergeht, weder Integrität noch Loyalität herrausragende Charaktermerkmale sein können.

Als ihm das Verhältnis zu Arendt in Hinsicht auf seine Karriere für ihn brisant zu werden schien, drängte Heidegger darauf, daß sie Marburg verläßt und 1926 zog sie nach Heidelberg, um bei Karl Jaspers, den Heidegger ihr anempfohlen hatte, ihre Promotion zu absolvieren. 25 Jahre später schrieb Hannah Arendt an Heidegger in einem Brief, sie sei ausschließlich seinetwegen aus Marburg weggegangen. Mit voller Absicht verschwieg sie Heidegger ihre neue Adresse, was wohl der Versuch war, ihre Autonomie ihm gegenüber wiederzugewinnen. Heideggers Bestreben allerdings galt eventuellen Möglichkeiten, wieder mit ihr in Kontakt zu kommen. Schließlich schaffte er es, seinem Studenten Hans Jonas, der mit Arendt befreundet war, ihre Adresse abzuschwatzen und Hannah Arendt ließ sich erneut auf Treffen mit Heidegger ein. Allerdings wurden im Laufe der Zeit die Treffen immer seltener und ihr Briefwechsel immer sporadischer, wobei Heidegger sich vorbehielt zu entscheiden, wann Hannah ihm schreiben durfte, was sie zunehmend den Eindruck gewinnen ließ, sie schreibe diese Briefe auf Befehl, wie sie es nannte. Es war wohl so, daß Hannah Arendt dem Fuchs, wie sie ihn nannte, offensichtlich nicht gewachsen war. Das erklärt aber nicht, warum sie mit ihren immerhin 22 Jahren nicht in der Lage war, diese merkwürdige und in guten Teilen für beide unwürdige Beziehung von sich aus zu beenden und stattdessen alle Ausreden für Heideggers mitunter länger anhaltendes anhaltendes Verstummen mehr oder weniger widerspruchs- und umstandslos akzeptierte. Gute zwanzig Jahre später allerdings charakterisierte sie Heidegger als einen Menschen, "der notorisch immer und überall lügt, wo er nur kann", was zwar angesichts Heideggers Opportunismus im sog. "Dritten Reich" verständlich, nichtsdestotrotz einigermaßen ungerecht war. Es folgten, wie hier auch gezeigt wird, später noch andere Urteile dieser Art von Hannah Arendt über Martin Heidegger - insgesamt kann man sagen, daß ihre Emotionen für ihn bis ihrem Tode ebenso intensiv wie ambivalent blieben.

In der Mitte des Jahres 1928 meinte Heidegger, das Verhältnis zu Hannah Arendt nicht mehr fortsetzen zu können. Sein Lehrer und Mentor Husserl hatte ihn wissen lassen, daß Heidegger als sein, Husserls, Nachfolger auf den Freiburger Lehrstuhl berufen würde. Mit dem eben erschienenen "Sein und Zeit" hatte er den vorläufigen Höhepunkt seiner Philosophenlaufbahn erreicht. Da erschien ihm das Risiko, daß sein Verhältnis zu einer Studentin publik werden könnte, als zu großer Unsicherheitsfaktor. "Ich liebe Dich wie am ersten Tag - das weißt Du und das habe ich immer gewußt" antwortete Hannah Arendt auf Heideggers Abschiedsbrief.

Im September 1929 heiratete Hannah Arendt den später als Günther Anders bekannt gewordenen Günther Stern, einen Studenten Heideggers. Allerdings war ihr selbst bewußt, daß diese Hochzeit nicht der Liebe, sondern purem Eskapismus geschuldet war: "Ich war, als ich aus Marburg fortging, fest entschlossen, nie mehr einen Mann zu lieben, und habe dann später geheiratet, irgendwie ganz gleich wen, ohne zu lieben, weil ich ja nichts für mich erwartete." Im Grunde benutzte Hannah Arendt Günther Stern, um von Heidegger weg- und über ihn hinwegzukommen. Stern war zu dieser Zeit mit seiner Habilitationsschrift über Musikphilosophie befaßt, der aber die von ihm erhoffte Anerkennung versagt blieb, und er entschloß sich schließlich, als seine Habilitation - übrigens aufgrund des Einspruchs von Adorno - nicht angenommen wurde, als Journalist zu arbeiten. Hannah Arendt indess sammelte Material für eine Biographie über Rahel Varnhagen, die ihr erstes, eigenständiges Werk wurde, daß den reifenden Genius erkennen ließ. So lebten beide, wie viele andere Studenten das damals wie heute auch tun - mehr oder weniger von heute auf morgen und das von der Hand in den Mund. Die Sterns wohnten in Berlin, zogen dann erst nach Frankfurt und schließlich wieder zurück nach Berlin, wo nun auch Günther Sterns beachtliche, journalistische und literarische Laufbahn ihren Anfang nahm.

Über Günther Stern lernte Hannah Arendt die marxistischen Philosophen der "Frankfurter Schule". Schon damals wurde die durchaus beidseitige Antipathie, die letztendlich einen philosophischen Antagonismus zur Frankfurter Schule ausdrückte, sehr deutlich. Folgerichtig wurde in den 60igern des 20. Jahrhunderts von der deutschen Linken das von Marx auf Hegel bezogene Diktum von der "toten Hündin" auf Hannah Arendt adaptiert. Nach einer langen Zeit der heute freimütig bekannten Dialogverweigerung seitens der Frankfurter Schule und ihrer Adepten und Epigonen begann man nach dem Wegbruch der ideellen Bezugspunkte im Osten einige Momente von Hannah Arendts Denken zu assimilieren, ohne auch nur im Ansatz das Potential ihrer Phänomenologie des Politischen verstehen zu können oder auch nur zu wollen. Immer wieder aufs neue verblüffende Beispiele grotesken Mißverstehens und nachgerade abenteuerlicher Fehlinterpretationen liefert der nunmehr selbsternannte Terrorspezialist Jürgen Habermas, so auch zum Beispiel in einem "Faktizität und Geltung" von 1992. Es sei aber zur Ehrenrettung der deutschen Linken angemerkt, daß Hermann L. Gremliza und sein Konkret-Verlag hier eine löbliche Ausnahme darstellen, die dort erschienen Beiträge in Sachen Arendt sind ohne Ausnahme lesenswert.

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Exil

Nach der Einsetzung Hitlers als Reichskanzler und der beginnenden Verfolgung aller Oppositioneller wurde ihre Wohnung am Rand der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz in Berlin zur Durchgangsstelle für Flüchtlinge und Verfolgte. Stern ging bald nach Paris, während Arendt dem Regime Widerstand entgegensetzen wollte, was faktisch das Ende der Ehe bedeutete.

Sie unterstützte auf die Bitte Kurt Blumenfelds hin die deutsche zionistische Organisation bei der Sammlung antisemitischer Hetzartikel in deutschen Zeitschriften jeglicher Art für den 18. zionistischen Weltkongreß, der im Sommer 1933 in Prag stattfand. Als Nichtmitglied hoffte sie, unbehelligt in der Preußischen Staatsbibliothek die Unterlagen zusammentragen zu können. Doch schon im Juli wurde sie in Berlin zusammen mit ihrer Mutter, die aus Königsberg zu Besuch gekommen war, auf der Straße verhaftet, glücklicherweise aber nach einer Woche ergebnisloser Verhöre wieder freigelassen. Ohne jedoch Antwort zu erhalten schrieb Hannah Arendt wiederholt an Heidegger, der sich erst Anfang 1933 bemüßigt fühlte, auf ihre Fragen, ob es denn tatsächlich wahr sei, daß er Juden von seinen Seminaren ausschlösse und jüdische Kollegen an der Universität nicht mehr grüße, zu antworten. Heideggers Antwort bestand in einer Aufzählung der "Gefälligkeiten", die er Juden trotz des Umstandes, daß dies angeblich seiner Arbeit abträglich gewesen wäre, erwiesen habe.

Als sie merkte, in welch rasantem Tempo sich sogar enge Freunde wie Benno von Wiese in einer Welle der Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls nicht unter dem Druck des Terrors vorging, unterwarfen, verließ sie im August 1933 Berlin und gelangte mit Hilfe einer tschechischen Fluchthilfeorganisation über Prag, Genua und Genf nach Paris. Das war der Beginn für Arendts Politisierung, die sie drastisch beschrieb: "Schließlich schlug mir einer mit einem Hammer auf den Kopf und ich fiel mir auf." Sie trat der zionistischen Bewegung bei, "denn nun war die Zugehörigkeit zum Judentum mein eigenes Problem geworden." Hannah Arendt schloß sich nicht zuletzt wegen ihrer negativen Erfahrungen mit dem hilflosen assimilierten Judentum dem Zionismus an. In Paris, das sie wie Benjamin "als Heimatstatt für Fremde zu lieben lernte, weil man sie bewohnen kann wie sonst nur die eigenen vier Wände", begegnete sie den assimilierten Juden in Gestalt des Konsistoriums, der religiösen Vereinigung der Juden unter dem Vorsitz Rothschilds. Er wurde für sie zum Inbegriff des Parvenutums. Um so mehr fühlte sich Arendt einem Flüchtlingskreis zugehörig, zu dem der Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, der Psychoanalytiker Fritz Fränkel, der Maler Kurt Heidenreich und vor allem Walter Benjamin gehörten, den sie als einen ihrer besten Freunde und zugleich tragischen Seher der geistigen Situation ihrer Zeit verehrte. Die Begegnungen mit Raymond Aron, Sartre und Brecht blieben flüchtig, und von dem französischen Existentialismus hielt sich Arendt wegen seiner fatalistischen Einstellung zur Freiheit und seinem unterschwelligen Nihilismus fern. Sie interessierte sich mehr für den Husserl-Schüler Koyré, den Existentialisten Jean Wahl und den Hegelianer Kojève.

Bei den Treffen in Benjamins Wohnung lernte lernte Hannah Arendt 1936 den schon im Jahre 1934 nach Frankreich geflohenen Heinrich Blücher kennen, "masculini sui generis", wie sie Männer zu bezeichnen pflegte, die ihr gefielen. Er war von der proletarischen Herkunft ohne akademische, aber mit einem außergewöhnlichen Maß an autodidaktischer Bildung bis hin zum Äußeren das ziemlich exakte Gegenteil von Heidegger. Auf Anhieb verband sie ihr gemeinsames Schicksal als deutsche Flüchtlinge vor dem für beide lebensbedrohlichen Terror des Nationalsozialismus - er als Kommunist, sie als Jüdin. "Als ich Dich dann traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr." schieb sie 1936 an Blücher. Nach ihrer Scheidung von Stern 1937 heiratete sie ihn 1940 und lebte sehr glücklich mit ihm bis zu seinem Tod 1970 zusammen. Durch die intellektuelle Auseinandersetzungen mit ihm hat sie politisch denken und historisch sehen gelernt.

Heinrich Blücher war 1899 in Berlin geboren, hatte eine Lehrerausbildung abgebrochen, als Journalist gearbeitet und von 1924 bis 1933 mit dem Schriftsteller Robert Gilbert Texte für Kabarett, Operetten und Filme verfaßt. Er schloß sich 1918 den Soldatenräten an und trat 1919 über den Spartakusbund in die KPD ein. In seinem Protest gegen den Stalinismus und seine deutschen Epigonen Ernst Thälmann und Ruth Fischer fand sich Blücher 1929 in der KPO wieder.

Blücher führte Hannah Arendt in eine komplexe und wirkungsmächtige politische Welt. Sie selbst befand, durch die Auseinandersetzungen mit ihm, Heinrich Blücher, habe sie politisch denken und historisch sehen gelernt. Heinrich Blüchers erstaunliche philosophischen Kenntnisse als Autodidakt, seine politischen Erfahrungen und seine packende Art zu reden begeisterten alle, die ihm begegneten. Seit Hannah ihn kannte, begann sie, sich mit der marxistischen Gesellschafts- und Revolutionstheorie und der Imperialismus-Studie Rosa Luxemburgs auseinanderzusetzen, auf die sie sich im zweiten Teil ihres Buchs über den Totalitarismus stützte. Die Stalinschen Schauprozesse, zu denen Arendt und Blücher leidenschaftlich negativ Stellung bezogen, führten unter den Emigranten zu heftigen Kontroversen und trugen entscheidend zu Blüchers Abkehr von der kommunistischen Ideologie bei.

Seit Anfang 1940 wurden die deutschen Flüchtlinge und die Staatenlosen seitens der französischen Behörden in Internierungslager verbracht. Im Mai 1940 ereilte auch Hannah Arendt dieses Schicksal und sie kam in das berüchtigte Lager Gurs. Kurz danach war auch Blücher interniert worden und Hannah Arendt verlor den Kontakt zu ihm. Doch beide hatten großes Glück und zusammen mit ihrer Entschlußkraft gelang beiden unabhängig voneinander in den chaotischen Zuständen nach der Kapitulation Frankreichs die Flucht aus den Lagern. Hannah Arenndt war bei Freunden in Montauban untergekommen und der Zufall fügte es, daß sie Blücher auf der dortigen Hauptstraße in einem kleinen Flüchtlingstreck wiedertraf. Günter Stern, der schon in den USA angekommen war, gelang es, die notwendigen Aus- und Einreisevisa sowie die Schiffspassage zu beschaffen und Arendt und Blücher konnten im Januar 1941 über Lissabon in die Vereinigten Staaten emigrieren. (Wenig später, nach der Stabilisierung der Verhältnisse unter dem Vichy-Regime, war die Flucht aus den Lagern so gut wie nicht mehr möglich und schließlich wurden die Insassen 1943 in die Vernichtungslager deportiert.)

Der vorherige Abschnitt zeigt, wie sehr die Läufe der Zeit Arendts und Heideggers divergieren ließen und ihr weiteres Verhältnis determinierten. Arendt verlor 1933 ihre bürgerliche Existenz und die Welt, in der sie aufwuchs und lebte und aus Heidegger, dem Philosophen mit Weltruf, wurde im Mai 1933 Heidegger der "Märzgefallene", so nannte man seinerzeit jene, die schnell noch der NSDAP beitraten, mit der Mitgliedsnummer 3125894 auf dem Parteiausweis. Vermutlich hielt er das der Sicherung seiner Position als Rektor der Universität Freiburg für dienlich, als der er im April 1933 berufen wurde. Unter seine Verantwortung fiel das Verbot für seinen Lehrer Husserl, die Bibliothek nutzen zu dürfen.

An dieser Stelle sei erwähnt, daß in den letzten Jahren immer wieder verstärkt der Vorwurf erhoben wurde, Heidegger sei bekennender Nationalsozialist gewesen, besonders von Victor Farías in "Heidegger und der Nationalsozialismus", oder er habe den Nationalsozialisten den philosophischen Hintergrund geliefert, wie Johannes Fritsche das in "Historical Destiny and National Socialism in Heidegger's Being and Time" tut. Fritsche geht so weit, zu behaupten, daß die politischen Inhalte von Sein und Zeit und Hitlers "Mein Kampf" identisch seien, "und zwar trotz der Tatsache, daß das erste Buch von einem weltberühmten Philosophen und das zweite von einem Soziopathen aus der Wiener Gosse geschrieben wurde." (Alex Steiner)

Ich sehe das ganz und gar nicht so, aber die Vorwürfe auszubreiten und zu erörtern, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, immerhin gibt es zu dieser Problematik ein mittlerweile regalfüllendes Buchsortiment. Nur so viel - ich denke, daß Heidegger der durchaus berechtigte kultur- und zivilisationskritische Kern seiner Phänomenologie einerseits im Zuge der Ereignisse und andererseits im Sog der Opportunität regelrecht entgleiste, was ihn dann den Aufstieg des Nationalsozialismus als "metaphysische Revolution" bejubeln und zum Beispiel zur Funktion eines Studiums an und für sich diesen Dreck formulieren ließ: "wieder ein Wagnis werden, kein Schutz für die Feigen. Wer den Kampf nicht besteht, bleibt liegen. Der neue Mut muss sich zur Stetigkeit gewöhnen, denn der Kampf um die Erziehungsstätten der Führenden wird lange dauern. Er wird gekämpft aus den Kräften des neuen Reichs, das der Volkskanzler Hitler zur Wirklichkeit bringen wird. Ein hartes Geschlecht ohne den Gedanken an Eigenes muss ihn bestreiten, das aus ständiger Prüfung lebt und zu dem Ziel, dem es sich verschrieb." Hannah Arendt veranlaßte das zu dieser Anmerkung: "Das Schlimme war, dass die wirklich daran glaubten! Zu Hitler fiel ihnen was ein. Und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastisch interessante und komplizierte..."

Hannah Arendts Bewertung des Verhaltens von Martin Heidegger war stets ambivalent. Einerseits 1946 erwähnte sie Heidegger 1946 in einem Artikel in der "Partisan Review" mit der Formulierung, Heidegger habe Husserl, seinem Lehrer und Freund, dessen Lehrstuhl er geerbt habe, den Zutritt zur Fakultät verwehrt, weil Husserl Jude war. Später wandte sie sich vehement gegen eine Veröffentlichung von Heideggers Brief über den Humanismus in der "Neuen Rundschau" und brüskierte damit ihren Freund Dolf Sternberger, der sich für diese Veröffentlichung eingesetzt hatte. An Jaspers schrieb sie 1949 über Heidegger: "Was Sie Unreinheit nennen, würde ich Charakterlosigkeit nennen, aber in dem Sinne, daß er buchstäblich keinen hat." Andererseits zeigte sie sich auch versöhnlicher und äußerte sich in einem Essay zu Heideggers 80. Geburtstag "Martin Heidegger at Eighty" folgendermaßen folgendermaßen:

"Nun wissen wir alle, daß auch Heidegger einmal der Versuchung nachgegeben hat, seinen "Wohnsitz" zu ändern und sich in die Welt der menschlichen Angelegenheiten "einzuschalten" - wie man damals so sagte. Und was die Welt betrifft, so ist sie ihm noch um einiges schlechter bekommen als Plato, weil der Tyrann und seine Opfer sich nicht jenseits des Meeres (1), sondern im eigenen Lande befanden. Was ihn selbst anbelangt, so steht es, meine ich, anders. Er war noch jung genug, um aus dem Schock des Zusammenpralls, der ihn nach zehn kurzen hektischen Monaten vor 35 Jahren auf seinen angestammten Wohnsitz zurücktrieb, zu lernen und das Erfahrene in seinem Denken anzusiedeln. Wir, die wir den Denker ehren wollen, wenn auch unser Wohnsitz mitten in der Welt liegt, können schwerlich umhin, es auffallend und vielleicht ärgerlich zu finden, dass Plato wie Heidegger, als sie sich auf die menschlichen Angelegenheiten einließen, ihre Zuflucht zu Tyrannen und Führern nahmen. Dies dürfte nicht nur den jeweiligen Zeitumständen und noch weniger einem vorgeformten Charakter, sondern eher dem geschuldet sein, was die Franzosen eine déformation professionelle nennen. Denn die Neigung zum Tyrannischen lässt sich theoretisch bei fast allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme). Und wenn diese Neigung in dem, was sie taten, nicht nachweisbar ist, so nur, weil sehr Wenige selbst unter ihnen über "das Vermögen, vor dem Einfachen zu erstaunen", hinaus bereit waren, "dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen" Diesen "Irrtum" hat Heidegger zwar nach kurzer Zeit eingesehen und dann erheblich mehr riskiert, als damals an den deutschen Universitäten üblich war. Aber das Gleiche kann man nicht von den zahllosen Intellektuellen und sogenannten Wissenschaftlern behaupten, die nicht nur in Deutschland es immer noch vorziehen, statt von Hitler, Auschwitz, Völkermord und dem "Ausmerzen" als permanenter Entvölkerungspolitik, sich je nach Einfall und Geschmack an Plato, Luther, Hegel, Nietzsche oder auch an Heidegger, Jünger oder Stefan George zu halten, um das furchtbare Phänomen aus der Gosse geisteswissenschaftlich und ideengeschichtlich aufzufrisieren."

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Leben in den USA, wirken in der Welt

1951 wurde Hannah Arendt amerikanische Staatsbürgerin. In New York nahm sie eine Tätigkeit als Lektorin auf und engagierte sich in verschiedenen jüdischen Organisationen. Ihr Hauptaugenmerk legte sie jedoch zunehmend auf die Erforschung des Totalitarismus.

Sie schrieb dazu verschiedene Abhandlungen und veröffentlichte 1951 ihr erstes Buch "The Origins of Totalitarism", das ein enormer Erfolg wurde; 1955 erschien die deutsche, überarbeitete Fassung unter dem Titel "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". In diesem Werk stellt die Autorin Nationalsozialismus und Stalinismus den aus der Antike bekannten Formen totalitärer Machtsysteme gegenüber und liefert in einer Analyse mögliche Ursprünge des Totalitarismus. Außerdem setzt sie sich mit dem sensiblen Problem Antisemitismus als politische Weltanschauung kritisch auseinander. Durch den Erfolg ihres Werkes erhielt die Autorin von verschiedenen renommierten Universitäten Einladungen zu Gastvorträgen. Schließlich übernahm sie auch Lehraufträge, so z.B. 1953 und 1959 an der Princeton University, 1963 bis 1967 an der Universität von Chicago.

Im Jahre 1949 reiste Hannah Arendt in ihrer Eigenschaft als Forschungsleiterin der "Commission on European Jewish Cultural Reconstruction", deren Generaldirektorin sie später wurde, für vier Monate nach Europa, um die jüdischen Kulturschätze, die den nationalsozialistischen Terror überstanden hatten, zu sichten. Sie nutzte ihre Reise, um das Ehepaar Jaspers in Basel zu besuchen und Karl Jaspers gewährte ihr Einblick in seinen Briefwechsel mit Heidegger, den sie mit den Worten kommentierte: "Heideggers Briefe an Jaspers ... alle wie früher: das gleiche Gemisch von Echtheit und Verlogenheit oder besser Feigheit." Nichtsdestotrotz reiste sie nach Freiburg und ließ Heidegger den Namen ihres Hotels wissen. Der besuchte sie noch am selben Abend und sie schrieb ihrem Mann: "Wir haben, scheint mir, zum ersten Mal in unserem Leben miteinander gesprochen". Sie erlebte Heidegger als gebrochenen und mit seinen gerade 61 Jahren früh gealternden Mann, der unter den wahren und falschen Beschuldigungen und diversen Verleumdungen heftig litt. Es kam auch zu einer Begegnung mit Heideggers Frau Elfride, und zwar am nächsten Tag, deren geistige Verfaßtheit Hannah Arendt so beschrieb: "Die Frau, fürchte ich, wird, so lange ich lebe, bereit sein, alle Juden zu ersäufen. Sie ist leider einfach mordsdämlich." Seltsamerweise bewertete Heidegger das Gespräch zu dritt als eine spontane Versöhnung in einer klaren und offenen Atmosphäre. Aber vermutlich hat ihm einmal mehr sein Opportunismus übermannt, denn Hannah Arendt war als prominente Jüdin als einzige, ihm vertraute Person in der Lage, die ihn verfolgenden Anschuldigungen zu entkräften, und er war wohl einfach nicht imstande zu realisieren, daß er damit Hannah Arendt einmal mehr für seine Interessen instrumentalisieren würde.

Insgesamt wird ihr dieser erste Deutschlandaufenthalt nach 16 Jahren Exil, das ihr in den USA längst zur Heimat geworden ist, zur Qual und sie schreibt an Heinrich Blücher: "Weißt du eigentlich, wie recht du hattest, nie wieder zurückzuwollen? Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist. Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit. Letztere stinkt zum Himmel."

Nach dem 2. Weltkrieg beschäftigte sich Heidegger vorrangig mit westeuropäischen Seinskonzepten, so etwa in der Schrift "Einführung in die Metaphysik" (1953). Im Gegensatz zur Welt der griechischen Antike hat die moderne Gesellschaft nach Ansicht des Philosophen durch die Entwicklung der Technik eine rein manipulative Haltung eingenommen, die das Sein und den Menschen ihres Sinnes beraubt hat und die zum Nihilismus führte. Die Menschheit hat ihre wahre Berufung vergessen, die darin besteht, ein tieferes Verständnis des Seins zu gewinnen, das bereits von den Griechen entdeckt wurde und von den nachfolgenden Philosophen wieder verloren wurde.

Das Zusammentreffen mit Heidegger und seiner Frau eröffnete ein weiteres Kapitel in dieser merkwürdigen Beziehung zweier Genies, das nun 25 Jahre andauern sollte, wobei sich Perioden reger Korrespondenz mit solchen langanhaltenden Schweigens ablösten. Die seltenen Stunden im Zwiegespräch mit Heidegger wurden für Hannah Arendt, wie schon 1925/26, Kostbarkeiten intellektuellen Austauschs. Nach ihrem Besuch bei Heidegger wandelte sich Hannah Arendt von der vehementesten Kritikerin Heideggers zu seiner mitunter nachgerade aufopfernden Agentin in den USA, so daß sogar Elfride, die eifersüchtig Hannahs Besuche bei Heidegger überwachte, die Nützlichkeit der Bekanntschaft mit ihr einsehen mußte. Dazu kam, daß die finanziell gutsituierte Hannah Arendt den ständig mit Geldproblemen kämpfenden Heidegger regelrecht mit Geschenken überschüttete, darunter zum Beispiel sämtliche Werke Kafkas und zahlreiche Schallplatten. Ihre eigenen Bücher und Artikel konnte er wegen seiner mangelhaften Englischkenntnisse allerdings nicht lesen.

Hannah Arendt reiste im März 1952 kam erneut nach Europa und plante, eine ganze Woche in Freiburg zu verbringen, was Elfride Heidegger ganz und gar nicht gefiel: "Die Frau ist halb blödsinnig vor Eifersucht, die sich in den Jahren, in denen sie offenbar dauernd gehofft hat, daß er mich vergessen werde, sehr gesteigert hat. Dies äußerte sich mir in einer halb antisemitischen Szene ohne ihn. Überhaupt sind die politischen Überzeugungen der Dame ... von aller Erfahrung ungetrübt und von einer so vernagelten, bösartigen, ressentiment-geladenen Dummheit." Nun war Heidegger für Hannah Arendt ein Mann, der die falsche Frau geheiratet hatte, worin Heidegger sie mit seiner Klage vor der Angst bestärkte, daß seine beiden Söhne, die damals 30 und 31, drauf und dran waren, endgültig aus dem Haus zu gehen und Elfride damit ihren zentralen Lebensinhalt verlieren und sich fürderhin ganz und gar ihm widmen, womit seine relative Ruhe, die er in der zweiten Linie der Familie gehabt habe, dahin sei. Hannah Arendt bewertete dies deshalb als irgendwie tragisch, weil in Meßkirch ca. 50.000 ungetippte Manuskriptseiten Heideggers herumlägen, welche Elfride nach Hannah Arendts Sicht der Dinge in all den Jahren bequem hätte abtippen können. Hannah Arendt war von Heideggers Eingeständnis seiner Probleme sehr beeindruckt, was daran gelegen haben mag, daß er vorher nie über persönliche Probleme zu ihr gesprochen hatte.

Für den Herbst 1955 stand für Hannah Arendt eine Deutschlandreise auf dem Programm, anläßlich deren sie einen Besuch Heideggers beabsichtigte. Mittlerweile war ihr Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" in deutscher Übersetzung erschienen und in allen Zeitungen wurde über Arendts Deutschlandreise berichtet. Erstaunlicherweise ließ Heidegger sich verleugnen und vermied es, Hannah Arendt einzuladen. Über seine diesbezüglichen Motive ist hinreichend spekuliert worde, ein Grund mag wohl durchaus der am häufigsten angenommene sein, daß Heidegger seiner Schülerin den Ruhm einfach nicht gönnte, zumal er, auf sein internationales Renommee bezogen, vom Superstar zum enfant terrible der Philosophie abgestürzt war. Sehr viel wahrscheinlicher liegt seine Motivation darin, daß ihm der Grundgedanke von "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" zutiefst zuwider war. Hannah Arendt setzte, phänomenologisch betrachtet, den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus Stalinscher Prägung gleich - ersteren hat er seinerzeit bewundert, was er nachträglich mit der Abscheu vor letzterem begründete. Wie viele andere Zeitgenossen auch rechtfertigte Heidegger sein, wenn auch kurzzeitiges, Engagement für den Nationalsozialismus mit dem vorgeblichen oder tatsächlichen Bedürfnis, das Abendland vor der Bolschewisierung schützen zu wollen. Mit dem Nachweis, daß der Nationalsozialismus strukturell und phänomenologisch dieselbe Erscheinung wie der Stalinismus war, vernichtete Hannah Arendt auf direktem Wege und umstandslos Heideggers Verteidigungsstrategie vor sich selbst und der Welt - und das unter Anwendung der von ihm wesentlich mitgeschaffenen phänomenologischen Methode. Heidegger hätte es mittels der eigenen Methodik besser wissen können und müssen - diese Erkenntnis tat ihm wohl weh.

Dies war für für einige Jahre Hannah Arendts letzter Versuch, Heidegger zu treffen. Nichtsdestoweniger hielt sie an ihrer Freundschaft zu Heidegger fest. Als Hannah Arendt beispielsweise 1958 anläßlich der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Karl Jaspers die Laudation halten sollte, hatte sie vor dieser Rede deshalb Angst, weil sie fürchtete, Heidegger könnte das als Akt der Solidarität mit Jaspers und als Absage an ihn bewerten. Damit schätzte sie Heideggers Befindlichkeit durchaus richtig ein, denn als 1960 ihr großartiges Werk "Vita activa oder vom tätigen Leben" in deutscher Übersetzung erschien, schrieb sie an Heidegger: "Du wirst sehen, daß das Buch keine Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen - ich meine zwischen, also weder Dich noch mich -, so hätte ich Dich gefragt, ob ich es Dir widmen darf; es ist unmittelbar aus den ersten Marburger Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Beziehung so ziemlich alles." Dies Worte riefen Heideggers Zorn einem Maße hervor, die nicht vernünftig erklärbar ist. Noch 1961, als Hannah Arendt nach einem Besuch bei Jaspers einige Tage in Freiburg weilte, schwieg Heidegger sich aus und Eugen Fink, ein Kollege von Heidegger, den sie aus ihrer Studienzeit kannte, lehnte ihre Einladung mit dem Hinweis ab, Heidegger habe ihm dies verboten. Erst anläßlich ihres 60. Geburtstages im Jahre 1966, meldete sich Heidegger mit Glückwünschen wieder bei Hannah Arendt, was sie sehr freute. 1967 besuchte Hannah Arendt nach mittlerweile 15 Jahren Heideggers wieder, um die Beziehung zu den Heideggers zu verbessern. Heidegger schrieb im Gefolge sogar zwei Gedichte für sie - "In der Dunkelheit" und "Abendlied" - und ihr Artikel über Walter Benjamin wurde von ihm gelobt Lob, was offenbar das erste und letzte Lob Heideggers für Hannah Arendts Arbeit war.

Im Jahr 1963 erregte Hannah Arendt weltweites Aufsehen mit "Eichmann in Jerusalem. A Report of the Banality of Evil" (deutsche Übersetzung 1964; "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen"), einem Buch, das auf ihrer Reportage über den Prozess gegen den Planer und Verwalter des Holocaust Adolf Eichmann im Jahr 1961 basiert. In ihrem Bericht, den sie für eine amerikanische Wochenzeitschrift schrieb und der später in Buchform erschien, vertrat Arendt die Auffassung, es sei zu einfach, die Verantwortung für den Holocaust an Einzelpersonen wie Eichmann festzumachen. Vielmehr müsse die noch immer gegenwärtige Gefahr aufgedeckt und gebannt werden. Bericht und Buch lösten eine heftige Kontroverse aus.

Im April 1969 wandte sich Elfride Heidegger mit der Bitte um Hilfe an Hannah Arendt. Der sich dramatisch verschlechternde Gesundheitszustand Martin Heideggers nötige beide, ein neues, ebenerdiges Haus zu bauen, wofür ihnen allerdings das Geld fehle. Sie wollten deshalb ihr bisheriges Haus verkaufen und überdies das Manuskript von "Sein und Zeit" veräußern. Hannah Arendt sollte eruieren, wer an dem Manuskript interessiert sein könnte und empfahl das Auktionshaus J.A. Stargardt in Marburg. Elfride Heidegger antwortete, eine Versteigerung wäre Martin und ihr nicht recht, sie hätten dabei eher an eine Stiftung oder, besser noch, an eine renommierte Bibliothek wie die Library of Congress gedacht. Auf Hannah Arendt Nachfrage lehnte die Library of Congress jedoch ab und verwies die Heideggers an das Schiller-Archiv in Marbach in Frage. Frau Heidegger schlug dies aus, weil nach ihrer Meinung die Amerikaner mehr zahlen könnten als die Deutschen. Taten sie aber nicht und schlußendlich verkaufte Heidegger, als es ihm schlechter ging, alle seine Manuskripte an das Marbacher Literaturarchiv.

Martin Heideggers besonderes Interesse für die philosophischen Themenkreise Endlichkeit, Tod, Nichtigkeit und Authentizität führte dazu, dass man ihn der Existenzphilosophie zurechnete, zumal seine Ideen stark auf deren Hauptvertreter, namentlich auf Jean-Paul Sartre, weiterwirkten. Heidegger selbst wies jedoch eine solche Einordnung stets von sich. Aber besonders der Einfluß von "Sein und Zeit" auf die Entwicklung der Philosophie war und ist außerordentlich stark und viele Strömungen der zeitgenössischen Philosophie in den letzten 70 Jahren wurden vom Werk Heideggers inspiriert oder sind direkt aus ihm hervorgegangen. Hier seien insbesondere der Existentialismus, die Hermeneutik, der Postmodernismus und der Öko-Feminismus sowie zahlreiche Trends der Psychologie und Literatur erwähnen. Seine Schriften beeinflussten neben Jean-Paul Sartre so unterschiedliche Denker wie Herbert Marcuse, Paul Tillich, Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und Jacques Derrida. Seine neben Hannah Arendt bekanntesten Schüler sind Karl Löwith und Hans-Georg Gadamer, dessen hermeneutischen Standpunkt er prägte, und in der Theologie beeinflusste er besonders Karl Barth, Rudolf Bultmann und Karl Rahner.

Hannah Arendt war von 1967 bis 1975 Professorin für Politik und Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ihre, neben den oben genannten, bekanntesten Werke sind "The Human Condition" (1958; deutsche Fassung 1960 "Vita activa oder Vom tätigen Leben"), "Zwischen Vergangenheit und Zukunft" (1961), "On Revolution" (1963; deutsch "Über die Revolution") sowie "The Life of the Mind" (3 Teile, erschienen 1977, 1978 und 1982; deutsch "Vom Leben des Geistes").

Hannah Arendt starb dort am 4. Dezember 1975 in New York. Heidegger überlebte sie um wenig mehr als fünf Monate. Er starb am 26. Mai 1976.

Lesetip zum Thema:
Hannah Arendt/Martin Heidegger, "Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse"
435 Seiten, Klostermann, Ffm. 1999 ISBN: 3465027914, 44 Euro

(1) Das ist eine Anspielung auf Platos Aufenthalt in Syrakus, wo er hoffte, beratend auf Dionysos, den Tyrannen von Syrakus, einwirken zu können, was allerdings vergeblich war.

Zitate sind im Text kursiv gesetzt, Titel in Anführungszeichen.

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Hannah Arendt - eine gelebte Vita Activa
Exkurs - die KPO

Die Geschichte der KPO (Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition, auch Kommunistische Partei-Opposition, KPD-Opposition oder KPD-O) ist ein tragisches Lehrstück für das Scheitern der Arbeiterbewegung.

Die KPO wurde gegründet zum Jahreswechsel 1928/1929 von dem Mediziner, Sprachwissenschaftler und Völkerkundler August Thalheimer, einem der brilliantesten und radikalsten Theoretiker ("Offensivtheorie") der deutschen Kommunisten, der 1916 zu den Mitbegründern des Spartakusbundes gehörte, und dem gelernten Maurer Heinrich Brandler, der während des Ersten Weltkriegs zusammen mit Fritz Heckert die Chemnitzer Spartakisten geführt hatte. Dem vorausgegangen war die Niederschlagung des Revolutionsversuch vom Herbst 1923, den vorzubereiten und durchzuführen das Politbüro der KPdSU beschlossen und die deutschen Kommunisten angewiesen hatte. Thalheimer war, wie schon bei den sogenannten "Märzaktionen", dem Aufstandsversuch der KPD vom März 1921, der Theoretiker des Aufstandes und Brandler der zu dieser Zeit verantwortliche, politische Führer der KPD. Dieser Revolutionsversuch endete in einer mittleren Katastrophe und Thalheimer, Brandler und Karl Radek, der beide sehr gut kannte und zur Unterstützung der KPD von den Sowjets nach Deutschland zurückgeschickt wurde, wurden sozusagen in die Wüste geschickt, was in der Praxis bedeutete, daß sie sich in der Sowjetunion zur weiteren Verwendung im Dienste der Weltrevolution einzufinden hatten.
Thalheimer arbeitete ab 1924 in Moskau im Marx-Engels-Institut und war Professor an der Sun-Yat-Sen-Universität, einer Kaderschmiede für die KP Chinas, wo er übrigens auch Deng Xiaoping im dialektischen Materialismus unterwies, der die Volksrepublik China de facto von 1976 bis zu seinem Tod am 19. Februar 1997 führte und maßgeblich den Wandel Chinas zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt initiierte.
Mitte 1928 kehrten Thalheimer und Brandler nach Berlin zurück, was durch eine Aufhebung der Haftbefehle gegen sie aufgrund einer Amnestie möglich war, und die Auseinandersetzungen mit der Thälmann-Fischer-Fraktion gingen in die nächste Runde, welche mit dem Ausschluß der Opponenten Ende 1928 endete. Thalheimer und Brandler gründeten zum Jahreswechsel 1928/1929 schließlich die KPO, ihr Zentralorgan war die bis heute existente Publikation "Arbeiterpolitik". Zusammen mit anderen, aus der Komintern (Kommunistische Internationale) und diversen, kommunistischen Parteien "Hinausgesäuberten" entstand 1930 die Internationale Vereinigung der Kommunistischen Opposition (IVKO). Allerdings handelte es sich bei den kommunistischen Oppositionen stets um kleine Kaderorganisationen, die KPO als eine der größten und aktivsten Organisationen hatte selbst in ihren besten Zeiten nicht mehr als 6000 Mitglieder, unter denen sich jedoch zahlreiche der erfahrensten kommunistischen Gewerkschafter und Kommunalpolitiker befanden. Dazu kam, daß im Jahre 1932 viele Mitglieder die KPO verließen und sich der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) anschlossen, die sich von der SPD abgespaltete. 1933 gingen Thalheimer und Brandler nach Frankreich ins Exil und unter dessen Bedingungen schmolz die IVKO schnell zusammen, bis sie 1936 eigentlich nur noch aus der deutschen Sektion und der Gruppe aus den USA unter der Führung des CIA-Agenten Jay Lovestone bestand. Nach ihrer Inhaftierung als feindliche Ausländer mit Kriegsbeginn gelang ihnen 1941 die Flucht nach Kuba, wo die beiden KPOler in der sowieso sehr kleinen, deutschen Emigrantenkolonie völlig isoliert waren. Thalheimer lebte von mageren Einkünften als Sprachlehrer und Übersetzer, Brandler versuchte, den Kontakt zu den über die ganze Welt verstreuten, restlichen KPO-Mitgliedern aufrecht zu erhalten und ab 1945 schrieb Thalheimer seine "Monatliche politische Übersichten", welche zur Folge hatten, daß die alliierten Besatzungsbehörden in Ost und West gleichermaßen Thalheimer und Brandler die Rückkehr nach Deutschland verwehrten.

Je nach politischer Haltung wurde und wird die Geschichte der KPO unterschiedlich bewertet. Den orthodoxen Kommunisten galten die KPOler als "Rechte" bzw. "Rechtsabweichler", in der Sprachregelung der ostzonalen SED und der westdeutschen KPD-Nachfolgeorganisationen waren sie Renegaten. Und das alles deshalb, weil Thalheimer, Brandler und Genossen sich gegen den sogenannten "Linkskurs" der Thälmann-Fischer-Fraktion Ende der 20iger Jahre des 20. Jahrhunderts stellten. Diese Einschätzungen sind natürlich ausschließlich der internen Feindbildpflege der KPD und ihrer Nachfolger geschuldet und ansonsten aus historischer Sicht schlicht Blödsinn.

Die sogenannte kritische Linke und linksliberale Historiker bewerten die Gründung der KPO als Ausdruck der Opposition gegen den zunächst Bolschewisierungs- und dann Stalinisierungskurs der Kaderkommunisten um Ruth Fischer. Auch diese Einschätzung geht an der Sache vorbei, wenn auch im Einzelnen solche Motive subjektiv eine Rolle gespielt haben mögen. Allerdings war das Verhältnis der KPO-Führung zum Stalinismus lange Zeit ambivalent bzw. indifferent. So beendeten Thalheimer und Brandler einerseits 1926 in der UdSSR ihre Zusammenarbeit mit Karl Radek, weil der sie für die Trotzki-Sinowjew-Fraktion gewinnen wollte, sie aber die Politik Stalins und Bucharins für gut und richtig hielten.

Andererseits wandte sich die KPO gegen die der KPD direkt aus Moskau diktierte Politik der Spaltung von Arbeiterbewegung und Gewerkschaften und gegen die von der KPD vertretene und der KPdSU abgesegnete Sozialfaschismustheorie der KPD und warb für die proletarische Einheitsfront aller Kommunisten gegen den Nationalsozialismus. Einerseits engagierte sich die KPO im spanischen Bürgerkrieg für die POUM (Partido Obrera de Unificación Marxista - Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit), die den Moskauer Funktionären als trotzkistische Organisation galt, obwohl der POUM-Mitbegründer und -Führer Andres Nín sich schon 1932 gegen Trotzki gestellt hatte inklusive persönlichen Bruchs der Freundschaft, so daß zum Beispiel die "Prawda", das Zentralorgan der KPdSU, am 17.12.1936 verkündete: "Was Katalonien betrifft, so hat die Säuberung der Trotzkisten und Anarchosyndikalisten begonnen und wird mit derselben Energie durchgeführt werden, wie in der Sowjetunion." Andererseits fühlten sich Thalheimer und Brandler gegenüber der KPdSU bis 1937 einer Politik der gegenseitigen Nichteinmischung verpflichtet und unterstützten Stalins Innen- und Kollektivierungspolitik einschließlich der ersten Schauprozesse. Nach Thalheimers Analyse waren Stalins Methoden zwar ungeeignet für entwickelte Industrieländer, für Rußland aber gerade gut genug. Tatsache ist, daß Thalheimer und Brandler und mit ihnen offiziell die KPO sich erst nach der Zerschlagung der POUM im Mai 1937 und dem Schauprozeß gegen Marschall Michail Tuchatschewski im Juni 1937, der mit dessen Hinrichtung endete, gegen die Politik Stalins und den Stalinismus als System wandten.