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Der Wille? Der Wille!

Nihil aliud a voluntate est causa totalis volitionis in voluntate.
Nichts als der Wille ist die Gesamtursache des Wollens.

Duns Scotus

Was ist das eigentlich, dieser Wille? Die schlechte Nachricht gleich vorweg – keiner, auch die Wissenschaft kann es nicht, ist imstande, auch nur ansatzweise zu erklären, was in unserem Gehirn vorgeht, wenn wir eine Entscheidung treffen. Es gibt verschiedene Modelle und Erklärungsansätze, die meisten sind ziemlich spekulativ und der pragmatischste und meiner Ansicht nach schlüssigste kommt aus der Philosophie – er wurde von Hannah Arendt [1] in ihrem Buch "Vom Leben des Geistes" geschrieben [2]. Ansonsten ist es hier so, wie es in solchen Fällen immer zu sein pflegt – die Debatte über Existenz oder eben Nichtexistenz eines freien, wahren oder sonstwie attributierten Willens erinnert eher an einen Glaubensstreit und einige Hypothesen haben unübersehbar ideologische Züge. Die gute Nachricht ist, daß es gleichwohl ein klar definiertes Kriterium gibt, das den Willen als solchen vom bloßen Mögen und Belieben unterscheidet und daß es deshalb möglich ist, Willensentscheidungen als solche zu erkennen beziehungsweise zu bewerten.

Wenn das Thema Wille in Diskussionen zur Sprache kommt, fällt sofort die allgemein verbreitete Beliebigkeit bei der Verwendung des Begriffes auf. Wille wird meist bis zur absoluten Indifferenz mit den vermeintlich gleich oder wenigsten sehr ähnlich gelagerten Begriffen des Mögens, Begehrens und Beliebens vermengt und gleichgesetzt. Allenfalls wird dem Willen etwas mehr Ratio und ein bißchen weniger emotionaler Gehalt als dem Mögen, Begehren und Belieben zugedacht, was aber die Funktion im Kontext menschlichen Handelns betrifft, unterscheiden die meisten Menschen ihren Willen gar nicht von den anderen Motivationen ihres Handelns - und sie halten das in aller Regel auch gar nicht für notwendig. Das ist erstaunlich, insbesondere wenn man bedenkt, daß ansonsten gerne jede Befindlichkeit ausgiebig ventiliert und reflektiert wird.

Dabei gibt es im Alltag viele Situationen, die eine Willensentscheidung erfordern und manche, aus bloßem Mögen oder Begehren heraus zur Entscheidung gebrachte Konstellationen, deren Ergebnis man - freundlich formuliert - nur als suboptimal bezeichnen kann, wäre besser anders entschieden worden. Meist wird das im Nachhinein als "unglücklich ausgegangen" oder als "dumm gelaufen" bewertet. Nur hat das mit Glück oder Unglück nichts zu tun, mit Dummheit öfter mal schon eher - nein, das Problem war eine, aus dem Mögen, Begehren oder Belieben heraus getätigte Handlung, wo besser eine Willensentscheidung angebracht gewesen wäre. Ich möchte das mit einem Beispiel illustrieren. Vor einiger Zeit rief ich im Callcenter meines Telefondienstleisters an, und zwar in der festen Absicht, mich über unerbetene Werbeanrufe zu beschweren. Als das Gespräch nach einer Viertelstunde beendet war, hatte ich einen Tarifwechsel vollzogen und einen neuen Vertrag abgeschlossen. War das eine Willensentscheidung? Nein, das war es definitiv nicht, sondern folgendes war passiert: Ich geriet in der Hotline an einen Mitarbeiter, der sein Geschäft, nämlich das Cross Selling gennannte Nutzen von bestehenden Kundenbeziehungen, um andere oder zusätzliche Produkte des eigenen Unternehmens zu verkaufen, wirklich verstand. Er erkannte offensichtlich, was mir im Moment des Gesprächs nicht bewußt war, daß der wirkliche Grund für meine Reklamation nicht diese zwei Werbeanrufe waren, sondern daß ich mit meinem bestehenden Tarif nicht zufrieden war und ich hatte tatsächlich schon einen Tarifwechsel erwogen, weil der bestehende zu teuer und die DSL-Leitung zu schwachbrüstig war. Nur war ich noch nicht über die Phase des bloßen Begehrens hinausgekommen, ich war mir über den Umfang und Anbieter des gewünschten Tarifs noch nicht sicher. An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Mögen beziehungsweise Begehren einerseits und dem Wollen andererseits deutlich. Ich wünschte mir, ich begehrte eine günstigere und bessere Leistung - der Schritt zum Wollen, also eine definitive Entscheidung für ein Angebot als Ergebnis einer kontingenten Entscheidung zwischen mindestens zwei Optionen stand noch aus. An exakt diesem Punkt wirkte die Verkaufstaktik des Callcenter-Agenten und er schaffte es, daß ich aus meinem Wünschen beziehungsweise Begehren heraus unter Umgehung einer Willensentscheidung den neuen Vertrag abschloß. Immerhin war ich noch soweit bei Sinnen, daß ich mir nicht das volle Programm a la "Entertainment bis der Arzt kommt" andrehen ließ, was der Hotlinemitarbeiter natürlich versuchte (wobei ich gestehen muß, daß ich für einige Augenblicke durchaus in Versuchung geriet), so daß ich im Ergebnis nun das tatsächlich gewünschte Pakt mit Kostenreduzierung und besserer Leistung habe. Es hätte aber auch weniger vorteilhaft für mich ausgehen können.

Nabelschau, Selbstmitleid und Affekte - persifliert von den Berliner Künstlern Shamov und Rummelsnuff

Diese Unterscheidung zwischen Mögen und Wollen mag auf den ersten Blick nach Erbsenzählerei klingen, aber Tatsache ist doch, daß eine komplette Fernsehsparte, das sogenannte Infotainment, davon lebt, daß in schöner Regelmäßigkeit ganze Rudel von "Opfern" dieser Verkaufstaktik durch Talkshows und andere Fernsehformate tingeln, um sich wort- und gelegentlich auch tränenreich zu beklagen, sie seien belogen und betrogen worden. Tatsächlich aber haben sie sich selbst belogen und betrogen und sie wurden allenfalls Opfer ihres Begehrens - um nicht zu sagen ihrer Gier. Wären sie nicht der konkret beklagten Verkaufsmasche erlegen, wäre es eine andere gewesen und es wird mit Sicherheit die nächste kommen, die wieder ihr Begehren das Handeln bestimmen lassen wird. Das fast schon Kuriose an diesen medialen Inszenierungen ist, daß die dort über Lug und Betrug Klagenden sich wieder nur von ihrem Begehren leiten lassen – von ihrer Gier nach Mitleid und Trost, Zuspruch und Anerkennung. Was dann, wenn die Klagenden gewahr werden, daß sie eine ziemlich alberne und wortwörtlich klägliche Figur abgaben, hin und wieder Anlaß zu erneuter Klage gibt, nämlich der, daß sie ausgenutzt und vorgeführt wurden und daß das Fernsehen – nun natürlich per se und in toto - auch nur lügt und betrügt. Im ungünstigsten Fall geht das so aus, daß das Leben zu einer Aneinanderreihung von Handlungen wird, die aus Mögen, Begehren oder Belieben heraus getätigt wurden, daß das Leben geprägt wird von Begehrlich- und Beliebigkeit, daß der so lebende Mensch von seinen Begierden quasi durch sein Leben getrieben wird. Anders formuliert hat das schlußendlich für Menschen, die ihr Leben so verbringen, zur Folge,

Willst du das wirklich?

Der Wille!

Die Tatsache, dass der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann weiter nur heißen, dass in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und dass das, was "rational", d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf.
Hannah Arendt

Was ist nun das oben erwähnten Kriterium, das den Willen als solchen ausweist und anhand dessen eine Entscheidung als eine des Wille zu erkennen ist? Dieses Kriterium heißt Kontingenz - der Begriff bedeutet das Möglichsein im Gegensatz zur Notwendigkeit und schließt dabei auch die eventuelle Zufälligkeit der Möglichkeit ein. Er ist von dem lateinischen Verb contingere, was "sich berühren, sich ereignen" heißt, abgeleitetund das entsprechende Substantiv ist contingentia, zu deutsch "die Möglichkeit, der Zufall". Der lateinische Begriff ist die Übersetzung des altgriechischen, wahrscheinlich von Aristoteles geprägten Begriffes endechómena, was "das, was möglich ist" bedeutet. [3]

Der Wille des Menschen ist kontingent und eine Willensentscheidung ist demzufolge kontingent verursacht. Das heißt, daß der Wille jenseits einer Notwendigkeit zwischen Möglichkeiten entscheidet. Konkret ergibt sich daraus, daß man statt jeder Handlung, die einer Willentscheidung folgt, auch eine andere, alternative Handlung hätte tätigen können, was explizit einschließt, daß man sie auch hätte unterlassen können. Der Prüfstein einer willentlichen Handlung - von den alltäglichen Entscheidungen bis zu den Entschlüssen, mit denen wir uns für und an die Zukunft binden - ist immer das Wissen, daß man die entsprechende Handlung auch hätte unterlassen können. Hannah Arendt schreibt: "Die wesentliche Eigenschaft unserer Willensakte ist ... die Möglichkeit, zwischen Entgegengesetztem zu wählen und die geschehene Entscheidung auch wieder rückgängig zu machen." [4] Allerdings endet die Möglichkeit, eine Entscheidung rückgängig zu machen, wenn sie in die Tat umgesetzt wurde und das Gewollte ausgeführt ist. Der scholastische Philosoph Duns Scotus [5], dessen Ideen Hannah Arendt aufgriff und weiterführte, formulierte, daß etwas Kontingentes nicht etwas nicht Notwendiges oder etwas nicht immer Existierendes sei, sondern etwas, wovon zu der Zeit, da es eintrat, auch sein Gegenteil hätte eintreten können.

Auf mein oben geschildertes Beispiel, meinem Anruf in der Hotline, bezogen heißt das, daß ich meine Entscheidung für den neuen Tarif nicht willentlich getroffen habe, weil sie nicht kontingent verursacht war. Indem ich zuließ, daß mich mein Wunsch beziehungsweise mein Begehren nach einem besseren Tarif vereinnahmte, ließ ich mich von beidem in meinem Handeln bestimmen und ich beraubte mich so der möglichen Optionen, zum Beispiel der, den Anbieter zu wechseln. Ich hätte, als ich merkte, worauf das Gespräch hinauslief – und das habe ich ja durchaus bemerkt -, das Gespräch beenden und eine Willensentscheidung im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten treffen sollen.

Das war nur ein kleines Beispiel, unser Alltag ist voller Handlungen, die viel zu oft von unserem Mögen, Begehren oder Belieben bestimmt werden und die eigentlich einer Willensentscheidung bedurft hätten. Wie weit das gehen kann, wird an folgendem Beispiel deutlich. Am 25.09.2009 war bei heise.de unter der Überschrift "Schäuble: Neue Medien machen Leben oberflächlicher" folgende Meldung zu lesen: "Die neuen Medien wie das Internet drohen das Leben nach Ansicht von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) oberflächlicher zu machen. 'Die ständige Erreichbarkeit und die schnelle Kommunikation führen zu einem Zwang zur sofortigen Reaktion. Für eine wohlüberlegte, abgewogene Antwort ist oft kein Platz mehr', sagte Schäuble am heutigen Donnerstag in Kassel zur Eröffnung der 'Zukunftswerkstatt' der Evangelischen Kirche in Deutschland." Heise berichtet weiter: "'Soziale Netzwerke bergen die Chance zu einer neuen Kommunikation, aber auch zu Vereinzelung. Wir brauchen Werte und Orientierung, damit uns die scheinbar grenzenlose Freiheit unserer Gesellschaft nicht überfordert', sagte Schäuble." [6]

Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: "...die schnelle Kommunikation führen zu einem Zwang zur sofortigen Reaktion." - und das von einem, der maßgeblich für die innere Sicherheit dieses Landes verantwortlich ist, aber auch den Bundeswahlleiter ernennt! Nein, es sind die Neugier, die Gier nach Anerkennung und Zuspruch, das hemmungslose Begehren des unbedingten Dabeisein- und Dazugehörenmüssens und die Angst, wortwörtlich den Anschluß zu verlieren und ausgeschlossen zu sein, die Reaktion zwanghaft werden lassen, oder kurz: all die Motivationen, die eine Willensentscheidung ausschließen. Die neuen Medien und das Internet sind, wie es auch die "alten" Medien schon waren, lediglich Spiegel dessen, was die Gesellschaft vorgibt. Nicht die Medien und das Internet sind oberflächlich, sondern der gesellschaftliche Diskurs ist es – er ist genauso oberflächlich, wie es die "Analyse" des feinen Herrn Schäuble ist. Das ist deshalb so, weil der gesellschaftliche Diskurs hierzulande (und anderenorts) diesen Namen eigentlich nicht verdient, er ist nur eine mehr oder weniger verständliche Artikulation gnadenloser Beliebigkeit, getrieben von Begehrlichkeiten aller Art, nur nicht vom Willen zur Meinungsbildung. Daß sich diese Werte und Orientierungshilfen, deren Fehlen Herr Schäuble da reklamiert, in Wohlgefallen aufgelöst haben, hat die politische Klasse, der er seit Jahrzehnten dient, selbst zu verantworten. Die oft geäußerte Behauptung, es gäbe stattdessen eine Art Wertevakuum, ist schlicht falsch – auch dort haben sich sich Begehrlichkeit und Beliebigkeit breit gemacht und das Gebaren der Politprotagonisten jeder Couleur zeigt, daß ihr Agieren nicht einmal mehr vom Willen zur Macht getragen wird, sondern daß sie von der Gier nach Posten und Pfründen getrieben oder gar gejagt werden. Statements wie das des Herrn Schäuble illustrieren anschaulich und geradezu exemplarisch, wie sehr die Inkompetenz anderer unser Leben zu bestimmen droht und daß sich mittlerweile wirklich alle Werte in geschwätziger Beliebigkeit auflösten. Wir können und müssen unseren Willen zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung dagegenstellen.

Beliebigkeit des Begehrens in Worthülsen - persifliert vom Berliner Künstler Shamov

Abschließend seien mir einige erläuternde Anmerkungen zur Vermeidung etwaiger Mißverständnisse gestattet.

1. Die Tatsache der Kontingenz des Willens und der daraus kontingent verursachten Entscheidungen sagt noch nichts über die Qualität derselben aus. Sie sagt nicht über Richtigkeit oder Falschheit, über soziale Kompatibilität oder etwaige Asozialität derselben aus, sie beschreibt, wie eine Willensentscheidung zustande kommt und nicht, welcher Qualität dieselbe ist. Natürlich wird jede Willensentscheidung geprägt von unserer Persönlichkeit, von unserem Ethos und unserer Verständnis von der Welt. Aus diesen beiden Aspekten – der Kontingenz des Willens und der Persönlichkeit des Menschen resultiert, daß es keine unbedingte Willensfreiheit gibt und nicht geben kann. Der Wille und die aus ihm folgenden Entscheidungen sind deshalb grundsätzlich und immer bedingt, was nicht heißt, daß er per se determiniert wäre. Diese Bedingtheit drückt sich in Quantität und Qualität der kontingenten Optionen und in den Konstellationen der individuellen Erfahrungs- und Lebenswelt aus.

2. Aus dem vorherigen Punkt ergibt sich eine Frage, auf deren Äußerung man wetten kann, wenn das Thema Willen zur Sprache kommt, und die geht ungefähr so: "Tun Mörder, Diebe und Sexualverbrecher nicht auch (und vielleicht gerade), was sie wollen?", was gelegentlich mit wechselnden Namen, aber vom Typus her sehr ähnlichen Menschen wie Hitler, Mengele und Haarmann, ergänzt wird. Hinter dieser Frage steht die nach dem Willen zum Bösen, zum vorsätzlichen Schaden anderer Menschen und ihr liegt die Gleichsetzung beziehungsweise Vermengung des Willens mit dem Belieben und Begehren zugrunde. Ich bin kein Psychologe, aber ich bin der Überzeugung, daß Verbrechen und Straftaten eigentlich jeder Art grundsätzlich einem zur Gier übersteigerten Begehren geschuldet sind, daß die Täter vollständig die Kontrolle über ihr Begehren verloren haben, wobei Gewalttaten oft auch aus Affekten resultieren. Daß ein Verbrechen planvoll verübt wurde, heißt nicht, daß der Täter einer Willensentscheidung folgt, was sich besonders an den Taten von Serientätern nachverfolgen läßt. Daß die Täter von ihrer Gier oder ihren Affekten unkontrolliert getrieben wurden, spicht sie aber keineswegs von ihrer Verantwortung für ihre Taten frei, die nicht zuletzt darin besteht, daß jeder Mensch für die Kontrolle seines Begehrens und seiner affektiven Neigungen verantwortlich ist.

3. Wenn ein vorgeblich motivloser oder zufälliger Willen zur Sprache kommt, ist das sachlich falsch. Motivlos und zufällig ist der Wille deshalb nicht, weil er im Kontext des Handelns steht, wobei die einzelne Willensentscheidung durchaus zufällig sein kann, weil das als mögliche Option in der Natur der Kontingenz liegt. Das Belieben ist motivlos und zufällig und in ihrer übersteigerten Form als Begierde kann sie unbedingt sein – beide lassen sich deshalb nicht in verantwortungsethische Begriffe fassen. Sich in seinem Handeln aber eben nicht von Belieben und Begierde dominieren zu lassen - genau darauf zielt das ab, was als Wille bezeichnet wird, nämlich Willensentscheidungen frei von Konditionierungen zu treffen, sofern das sinnvoll ist - was es nicht immer ist, denn bestimmte "Entscheidungen" sollte man durchaus von Konditionierungen treffen lassen.

4. Womit ich beim nächsten Punkt bin – nicht jede Handlung muß eine Willensentscheidung voraussetzen. Bei vielen Alltagshandlungen wäre das sogar kontraproduktiv, sie sind konditioniert und das ist auch gut so. Eine Konditionierung ist eine während des Handelns nichtbewußte Handlungsanleitung, die unter bestimmten Voraussetzungen ein bestimmtes Handeln nach bestimmten Konditionen erlaubt bzw. erzwingt. Konditionierungen sind (im Gegensatz zu Instinkten und Reflexen) immer gesetzt, entweder durch Erziehung oder durch eigenes Lernen. Die meisten Konditionierungen sind durchaus nützlich. Es wäre beispielsweise nicht nur aus ästhetischen Gründen eher weniger adäquat, wenn man seine Stoffwechselendprodukte einfach auf dem Sofa applizieren würde, sobald einen das entsprechende Bedürfnis überkommt, anstatt die dafür bestimmte Lokalität zu frequentieren. Ernster formuliert: ohne Konditionierung wäre der Mensch nicht handlungsfähig. In jeder Handlungssituation müßte eine bewußte Entscheidung über den Handlungsweg getroffen werden. Wie schneide ich das Brötchen auf? Mit dem Löffel? Ist der Kamm dazu geeignet (das funktioniert sogar), oder die Zahnbürste? Was schmiere ich drauf, das Fahradkettenfett oder die Marmelade? All das muß nicht unbedingt per Willensentscheidung geregelt werden. Hinzu käme, daß wir keinen der Gegenstände benennen könnten und dessen Funktionalität mit jeder Handlung aufs Neue empirisch, also quasi per Selbstversuch, erkunden müßten. Ähnliches gilt für Reflexe und Instinkte, man sollte sich beim Stolpern besser auf seine Reflexe verlassen, statt auf den Willen zu bauen, unverletzt zu Fall zu kommen und in einigen Fällen führen instinktiv gefällte Entscheidungen zu besseren Resultaten als Willensentscheidungen. Ich verlasse mich beispielsweise beim Kauf von Musik-CDs auf instinktive, also sozusagen Bauchentscheidungen und habe damit bisher beste Erfahrungen gemacht, während ich bei Willensentscheidungen in Sachen Musik fast immer Fehlkäufe tätigte. Willensentscheidungen sind – grob umrissen – in Fragen der mittel- und langfristigen Gestaltung der Lebensumstände unerläßlich und im Kontext unseres sozialen Handelns wichtig und oft erforderlich, wobei hier auch emotionale, empathische und instinktive Motivationen eine wichtige Rolle spielen. In beiden Lebensfeldern ist konditioniert bedingtes Handeln meist kontraproduktiv oder gar schädlich und schon gar nicht sollte man sich von bloßem Mögen, Begehrlichkeit oder gar Gier leiten lassen.

5. Oft ist vom freien Willen die Rede. Ich selbst verwende den Begriff "frei" im Kontext des Willens ungern, weil er in aller Regel aus einem trivialen Freiheitsverständnis heraus verwendet wird. Ich halte eine solche Sicht für banal bis infantil und ein daraus folgender Begriff eines "freien" Willens ist schlicht überflüssig, denn es gibt keinen, in diesem trivialen Sinne "unfreien" Willen, das wäre nämlich Belieben oder Begierde. (Dasselbe gilt für den seltener, aber auch anzutreffenden Begriff vom "wahren" oder "unwahren" Willen.) Doch die Frage nach der Freiheit des Willens ist sehr viel komplexer. Duns Scotus unterschied zwischen dem natürlichen Willen (ut natura), der den natürlichen Neigungen folgt und sich von der Vernunft wie auch von den Begierden leiten lassen kann, und dem freien Willen (ut libera) im eigentlichen Sinne, der die Freiheit hat, Ziele zu entwerfen, die um ihrer selbst willen angestrebt werden. Diese Sichtweise kann ich nachvollziehen, sie ist allerdings ziemlich komplex und deshalb in Diskussionen leider nur schwer vermittelbar, eine weitergehende Erörterung findet sich in den Texten "Willensethik" in dieser Rubrik.

6. Wann immer das Thema Willen zur Sprache kommt wird sich jemand finden, der auf eine Lektüre verweist, derzufolge ein Wissenschaftler herausfand, daß sich der Finger zwar nur sehr kurze Zeit vorher, aber deutlich meßbar vor dem Entschluß, die Waffe abzufeuern, am Abzug krümmt, was ja wohl nur heißen könne, daß das Gehirn schon agiere, bevor wir bewußt entschieden, was wiederum bedeute, daß es keinen freien Willen geben könne. Der solcherart wiedergegebene Wissenschaftler heißt Gerhard Roth und dieser Verweis ist die zweifelhafte Interpretation eines nicht minder fragwürdigen Resultats der – nun ja – Forschung dieses Mannes. Womit ich schlußendlich bei einer zwar kleinen, aber ziemlich lauten Fraktion von – und wieder: nun ja – Wissenschaftlern angekommen bin, deren lautester ebenjener Herr Roth ist. An diese Leute dachte ich, als ich eingangs darauf hinwies, daß die Debatte über Existenz oder eben nicht Nichtexistenz eines freien Willens eher an einen Glaubensstreit mit unübersehbar ideologische Zügen erinnert.

Der Herr Roth hat seine Erkenntnisse in einem kurzen Text zusammengefasst und darin seine zentralen Thesen formuliert. Eine URL zu diesem Text findet sich neben den zu zwei anderen Leseproben Rothschen Schaffens unter Fußnote [7], unter Fußnote [8] habe ich drei URLs zu Erwiderungen auf den Herrn Roth vermerkt. Unter der Überschrift "Das Ausgangsproblem" beschreibt er das, was er als Grundannahmen der "Gegenseite" versteht, auf denen er die nachfolgende Argumentation seinerseits aufbaut. Er beginnt seine Problembeschreibung mit dieser Aussage: "Aus dem Gefühl, wir seien bei Willkürhandlungen willensfrei, folgt nicht zwingend, dass Willensfreiheit tatsächlich existiert..." und schafft es, den zentralen Fehler seiner argumentation in zwei aufeinanderfolgenden Worten zusammenzufassen – effizient ist er ja irgendwie, der Herr Roth. "Willkürhandlungen willensfrei" – Respekt, Herr Professor, so prägnant hat vermutlich noch keiner vor Ihnen seinen eigenen Irrtum in Worte gefaßt. Ich muß wohl nach meinen bisherigen Darstellungen nicht ausführlicher erörtern, daß Willkürhandlungen und solche aus dem Willen resultierende einen absolut unvereinbaren Gegensatz darstellen.

Weiter geht es mit diesen Behauptungen: "Die Frage, ob dieser Wille frei sei, wird dabei nicht thematisiert, da wir die externe und interne Bedingtheit unseres Willens nicht empfinden." Jeder, der über ein gewisses Maß Lebenserfahrung verfügt und somit über hinreichend Erfahrung mit sich selbst verfügt und der überdies halbwegs bei Sinnen ist, weiß um die Bedingtheit seines Willens, die aus den eigenen und den extern gesetzten Grenzen resultiert, und ist sich ihrer bei der Entscheidungsfindung bewußt. Wer es (noch) nicht weiß, lernt es beim Scheitern, was auch den Versuch impliziert, insbesondere die eigenen Grenzen zu überwinden. Wer es nicht zu lernen vermag, was es auch gibt, wird immer wieder scheitern.

"Ein Willensakt führt keineswegs notwendig zu einer Handlung, d.h. ich kann etwas stark wollen, ohne dass ich es dann auch tue." Unfug, ein Akt ist eine Handlung, der Begriff ist vom lateinischen actus abgeleitet, was u.a. Handlung, Geschehen und Tat bedeutet. Ein Willensakt umfaßt die Willensbildung und die Willensentscheidung und die Umsetzung derselben in die Tat. Was der Herr Roth meint, ist lediglich die Willensbildung. "Umgekehrt gehen den automatisierten Handlungsabläufen, die unser tägliches Leben charakterisieren, keine expliziten Willensakte voraus." Dieser Satz illustriert sehr schön das bis zur Banalität mechanistische Menschenbild des Herrn Roth. Man könnte meinen, daß er die Probanden für seine Studien in der Augsburger Puppenkiste rekrutiert hat. (Wobei ich gar nicht weiß, ob er selbst Studien durchgeführt hat oder ob er nur bei Libet [9], auf den er sich ständig beruft, Trittbrett fährt.) Doch davon abgesehen – sind Willensakte nicht immer explizit? Und wenn nicht, was ist mit den impliziten Willensakten? Ich hoffe, der Herr Professor "forscht" an diesem vertrackten Problem weiter auf daß uns auch fürderhin die Rothsche Weisheit zuteil werde. Halleluja! "Es gibt entsprechend Willensakte ohne nachfolgende Willenshandlung und Willenshandlungen ohne vorausgehende Willensakte." Nein, es gibt weder das eine noch das andere, sofern man weiß, was der Begriff Willensakt bedeutet.

Ich könnte das noch über einige Seiten fortsetzen, aber das ist nicht der Zweck des Artikels. Wikipedia vermerkt die oft geäußerte Kritik, daß Roth (und einige seiner Kollegen) würden "die Willensfreiheit falsch, nämlich als unbedingte Freiheit auslegen, um sie so scheinbar zu widerlegen und so ihre eigene Forschung zu profilieren." [10] Stimmt exakt, genau das tut der Herr Roth. Was soll man dazu sagen? Nun ja, der Mann hatte auch mal Musikwissenschaft studiert und promovierte über den marxistischen Theoretiker Gramsci - das war 1969 gerade groß in Mode. Er hätte dabei bleiben sollen, bei der Reflexion aller Aspekte von Musik oder beim Marxismus oder meinetwegen auch bei beidem. Mit Ersterem könnte er nicht viel Schaden anrichten und Letzteres interessiert keinen mehr.

Sapere aude!

Fußnoten:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt#Denken.2C_Wollen.2C_Urteilen
[3] https://de.wiktionary.org/wiki/kontingent, siehe auch: Das Große Fremdwörterbuch, Dudenverlag, ISBN 3411041617
[4] Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Piper Verlag GmbH, ISBN 3492024866
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Duns_Scotus
[6] https://www.heise.de/newsticker/Schaeuble-Neue-Medien-machen-Leben-oberflaechlicher--/meldung/145909
[7] http://www.sprache-werner.info/Das-Problem-d-Willensfr.1996.html
http://www.sprache-werner.info/Kann-die-Gehirnforschung.1998.html
https://www.zeit.de/campus/2008/02/interview-freier-wille
[8] http://www.sprache-werner.info/86-X-Hirn-determiniert-Geist.2882.html
http://www.sprache-werner.info/28-X-Hirnforschung-widerlegt-nicht.2058.html
https://www.zeit.de/2005/29/N-Singer_2fPrinz
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Roth_(Biologe)#Kritik
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Libet-Experiment

[geschrieben 08/2011, Links geprüft 16.06.2019]

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