Johannes Agnoli und die deutsche Linke - Analyse einer Groteske
Anlässlich der Ereignisse in Leipzig-Connewitz zum Jahreswechsel 2019/2020 fragte ich mich ziemlich erstaunt, woher dieser Furor kommt, der sich da entlädt. Zorn und Renitenz sind natürlich ein Spezifikum jugendlicher Revolte gegen die Alten und deren Verständnis von der Welt, das ging mir in meiner Jugend nicht anders und ich habe mir beides bis heute erhalten, wie meine Leitmotive Etiam si omnes, ego non (Auch wenn alle mitmachen, ich nicht - Philipp Freiherr von Boeselager) und Я всегда буду против (Ich werde immer dagegen sein - Jegor Letow) verdeutlichen. Absolut unverständlich sind mir der blinde Hass, der sich da entlädt, und die leit- und qualitätsmediale Ignoranz bezüglich desselben.
Freilich ist ein nicht unerheblicher Teil der Connewitzer längst dem Alter entwachsen, das ihre Revolte als jugendlich einstufen ließe. Was mich erstaunte, waren die blinde Wut und der blanke Hass, der sich in der Randale der Connewitzer Linksautonomen und Antifa manifestierte. Neben der Tatsache, dass die quasi ihr eigenes Wohnzimmer verwüsten, erstaunte mich die abgrundtiefe Verachtung und der nicht minder tiefe Hass auf ein System, das die allermeisten der juvenilen oder schon ergrauten Randalierer in materieller Hinsicht (für das Immaterielle ist jeder für sich selbst zuständig) zeitlebens vergleichsweise komfortabel versorgte und weiterhin versorgen wird, den größeren Teil von ihnen durch Bezug von ALG II.
Auf der Suche nach einer Erklärung beziehungsweise der Motivation sah ich mich einerseits auf der Netzseite von Conne Island, das neben seiner eigentlichen Funktion als Jugend-Kulturzentrum in den letzten Jahren zu einer Art Hauptquartier der Connewitzer Linksautonomen und Antifa wurde, und andererseits auf Indymedia um, das Connewitz eine eigene Rubrik gewidmet hat. Hier wurde ich erneut überrascht, denn ich stellte fest, dass eine Figur, von der ich annahm, sie verstaubte längst in der Abteilung "Grober Unfug und Schwachsinn" der marxistischen Rumpelkammer, eine ebenso seltsame wie verblüffende Renaissance erlebt - der in den 1960er Jahren zum "Marxisten" mutierte, vormalige "nationalsozialistische Antifaschist" (Selbstbeschreibung), SS-Freiwillige (wurde zur Wehrmacht weitergeleitet) und Wehrmachts-Partisanenjäger in Jugoslawien Johannes Agnoli. So wurden und werden im Conne Island recht regelmäßig Filmabende und seminarähnliche Veranstaltungen zu Agnoli abgehalten. [1 Quellen] Auf Indymedia sind die Aktionen der Connewitzer Antifa ausführlich erläutert, zum Beispiel unter Titeln wie "Wir hielten unser Wort - Warum wir Bullen angreifen" oder "Wir suchen die direkte Konfrontation - Bullen angreifen!". [2 Quellen] Am Rande angemerkt - was die Zahl linksextremer Straftaten angeht - da haben Linksautonome und Antifa ganz offensichtlich andere Quellen als die sogenannten Leit- und Qualitätsmedien, nämlich ihre eigenen, wie die mit Stolz präsentierte Statistik der Berliner Linksautonomen und Antifa zeigt, die unter dem Titel "Berlin Militant 2019 - Jahreschronik" zumindest all das auflistet, was eh in der polizeilichen Rundablage landet: "Das sind 142 Aktionen an der Zahl in relativ gleichbleibender Frequenz über die Monate (bis auf Januar mit nur vieren)". [3 Quelle]
Doch zurück zu Agnoli - mir war der Mann schon immer zuwider, das heißt, seitdem ich mich in ebenso endlosen wie zähen Debatten in linken Zirkeln Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre mit ihm beziehungsweise seinen Elaboraten auseinandersetzen musste. Ich hielt und halte Agnoli für einen selbstgerechten Heuchler und Blender und überdies für einen eitlen Schwätzer, der sich nicht entblödete, sein Theoriekonstrukt als "Marxismus-Agnolismus" zu verkaufen. Seine "Theorie" ist nichts als synkretischer Unfug, eine Mischung trivialisierter Marx-Engels-Exegese mit einem faschistoiden Kern, garniert mit einigen Versatzstücken aus dem ideologischen Fundus von Anarchismus und Libertarismus. Schon damals erstaunte mich, wie blind man seitens der Linken dem Agnoli die Wandlung vom faschistischen Saulus zum marxistischen Paulus abnahm - und wie selten wahrgenommen, geschweige denn verstanden wurde, dass der Kern der Agnolischen Ideologie faschistoid oder gar faschistisch geblieben ist. Allerdings nahm ich bis vor Kurzem an, Agnoli und sein in Lettern gesetzter Stuss wären Geschichte beziehungsweise von der Geschichte überholt, aber das war ein Irrtum. Auch in der Linken - gemeint ist die Partei - hat Agnoli offensichtlich Fans, und zwar genug, um die Rosa-Luxemburg-Stiftung Ende November 2014 eine Tagung unter dem Titel "Transformation der Demokratie - demokratische Transformation" abhalten zu lassen, die "absichtsvoll an das von Johannes Agnoli und Peter Brückner erstmals 1967 veröffentlichte Buch über die Transformation der Demokratie" erinnern soll. [4 Quelle]
Wer war dieser Agnoli? Giovanni Agnoli entstammte einer vormals wohlhabenden Familie in Valle di Cadore in den östlichen Dolomiten, die in der Weltwirtschaftskrise ihr Vermögen verlor. Als Mitglied der Opera Nazionale Balilla, der Jugendorganistation der Partito Nazionale Fascista (der italienischen HJ quasi) wurde er Provinzialführer der Oberschuljugend. Der Zweite Weltkrieg war für den jungen Agnoli ein "Total-Kampf zweier Welten: der Macht des Goldes und des Stahlpaktes Italien-Deutschland" mit ihren beiden Führern, "die in der zeitgenössischen Geschichte keinen Vergleich haben, die sich nicht um Opfer und Verluste sorgen, um den vollständigen Sieg zu erringen." Er verfasste enthusiastische Schriften auf den Krieg, den Duce und den Faschismus, was dann so klang:
[5 Quelle der Zitate]
Nach dem Abitur im Mai 1943 und der deutschen Besetzung Italiens meldete Agnoli sich bei der Waffen-SS, die für die Rekrutierung ausländischer Kriegsfreiwilliger zuständig war. Sie überstellte ihn zu den Gebirgsjägern der deutschen Wehrmacht, wo er bei der Bekämpfung der jugoslawischen Partisanen eingesetzt wurde. Die gelegentlich zu lesende Behauptung, Agnoli wäre Mitglied der SS gewesen, ist falsch, ebenso falsch ist sicher auch die nicht minder oft zu lesende Behauptung, er sei lediglich Kompaniemelder gewesen und habe "auf den Feind nicht schießen dürfen". Die Behauptung, Agnoli habe "auf den Feind nicht schießen dürfen", geht posthum auf seine Frau Barbara Görres Agnoli (vgl. Quelle 5) zurück und ist von erlesener Verlogenheit, insbesondere im Kontext der extrem brutalen Bekämpfung der Tito-Partisanen seitens der Wehrmacht. Geglaubt haben es Agnolis "linke" Fans gerne, und zwar bis heute.
Im Mai 1945 geriet Agnoli in britische Gefangenschaft und wurde im Kriegsgefangenenlager im ägyptischen Moascar in der Sueskanalzone interniert und wurde im Sommer 1948 durch Vermittlung eines deutschen Mitgefangenen nach Deutschland entlassen. In Urach, dem heutigen Bad Urach, arbeitete er zunächst in einem Sägewerk, bis er im Dezember 1949 mit einem Kriegsteilnehmer-Stipendium Philosophie, im Nebenfach hatte er Politikwissenschaft belegt,an der Universität Tübingen studieren konnte. Im Mai 1955 wurde er in Deutschland eingebürgert. 1957 trat er in die SPD ein, aus der er 1961 als Mitglied der Sozialistischen Förderergesellschaft wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses mit dem SDS ausgeschlossen wurde.
Nach einer Assistenzzeit an der Universität Köln kam er 1962 an die Freie Universität Berlin. Auf Empfehlung von Wolfgang Abendroth wurde Agnoli 1970 Assistent von Ossip K. Flechtheim am Otto-Suhr-Institut, er habilitierte sich dort 1972. Er war von 1972 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1990 zunächst Assistenzprofessor und später ordentlicher Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Agnoli gilt als einer der Vordenker der 68er-Studentenbewegung.
"Das Buch "Die Transformation der Demokratie", das er 1967 zusammen mit dem Sozialpsychologen Peter Brückner verfasste, enthält seinen Aufsatz gleichen Titels zur radikaldemokratischen Wahl- und Pluralismuskritik in Deutschland. Anhänger des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) betrachteten dieses Werk in den späten 1960er Jahren als einen zentralen programmatischen Text. Kennzeichnend für Agnoli ist eine eindeutige Ablehnung des Repräsentativsystems, des Parlamentarismus und des vom deutschen Grundgesetz konzipierten Leitbildes der Demokratie. Agnoli war 1967 maßgeblich an der Gründung des Republikanischen Clubs in West-Berlin beteiligt und auch an den Debatten und Aktionen der (APO). Agnoli starb am 4. Mai 2003 in der Toskana. Seine Witwe übergab Anfang 2006 seinen Nachlass an die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Die knapp 1.500 Bücher und Broschüren werden dort in der Johannes-Agnoli-Bibliothek präsentiert." [nach Wikipedia zitiert, [6 Hinweis]
Soweit die biografischen Daten zu Agnolis Leben, die Quellen sind hier zu finden. Nun kann man - sicherlich mit einigem Recht - Agnolis juveniler Begeisterung für den Faschismus und sogar, wenn auch deutlich weniger berechtigt, seiner Freiwilligenmeldung zur Wehrmacht jugendliche Naivität und seine Sozialisation in einem faschistischen Staat entschuldigend zugute halten. Nicht zu rechtfertigen oder zu entschuldigen ist die Tatsache, dass sich Agnoli nie von seinem Spiritus Rector Vilfredo Pareto distanzierte und nie den von Pareto übernommenen Kern seiner Ideologie - die abgrundtiefe Verachtung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie - revidierte, dazu später mehr. Nicht zu rechtfertigen oder zu entschuldigen ist sein, zwischen Verleugnung und Prahlerei changierendes Spiel mit seiner faschistischen Vergangenheit. Bei Kraushaar finden sich bemerkenswerte Hinweise dazu.
Kraushaar, Wolfgang: Agnoli, S. 177 (vgl. Fußnote 7) Kraushaar zitiert in Fußnote 62 auf derselben Seite nach Frese, Jürgen: Agnolis Botschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Dezember 2006.
Agnoli schaffte es bis zu seinem Tod nicht, seine juvenile Begeisterung für den Faschismus und den Nationalsozialismus sinnvoll einzuordnen und intellektuell zu verarbeiten, emotional vermutlich auch nicht. Statt einer selbstkritischen Auseinandersetzung bastelte er sich ein infantiles Erklärungsmuster, eine Art faschistoides Wolkenkuckucksheim - und er behielt das zentrale Element seiner damaligen Weltanschauung, nämlich die Verachtung für die parlamentarische Demokratie, bei und spann es in sein "linkes" Weltbild ein. Konsequenterweise äußerte sich Agnoli nie öffentlich zum Holocaust, zu den Kriegsverbrechen an der Ostfront oder zu anderen Themen in Bezug auf den Nationalsozialismus. Die wenigen Male, in denen er sich in Texten zum italienischen Faschismus äußerte, waren für ihn nie Menschen und ihr Handeln - sei es als Opfer, sei es als Täter - relevant, sondern nur Strukturen als Ausdruck von Klasseninteressen - oder was er darunter verstand. In einem Interview aus dem Jahr 2000, das erst im Juni 2003 veröffentlicht wurde, macht er diese bemerkenswerten Aussagen:
Agnoli: Ich war Provinzialführer der Oberschuljugend innerhalb des faschistischen Jugendverbandes und schon damals wegen meiner Orientierung an Deutschland bekannt. Ich hatte Kant, Fichte, Hegel, Goethe, Hölderlin gelesen - alles auf Italienisch wohlgemerkt. Das war für mich Deutschland. Und dann habe ich einen eigentümlichen Fehler begangen, ich habe etwas gemacht, was die Nazis auch machten: die volle Identifikation zwischen dem Deutschland, das ich kannte - die erwähnten Namen - und Nazideutschland. Deswegen habe ich mich 1943 freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet.«
Bertsch, Matthias: Marxist-Agnolist. Interview mit Johannes Agnoli. [8 Quelle]
Nüchtern formuliert sagte Agnoli hier, dass eigentlich Kant, Fichte, Hegel, Goethe, Hölderlin für seine Meldung zur Wehrmacht als wohlgemerkt Nichtdeutscher und seine Tätigkeit als Partisanenkiller verantwortlich waren und dass der Nationalsozialismus im Grunde ein Irrtum infolge einer Überidentifikation der Deutschen mit ihren Geistesgrößen war. Darauf muss man erst einmal kommen! Spätestens hier stellt sich die Frage, wie sich ein Schwätzer, Blender und Dünnbrettbohrer wie Agnoli im akademischen Betrieb der Bundesrepublik etablieren und - seinerzeit und offensichtlich in Teilen der Linken bis heute glaubhaft - den Sturz des Systems predigen konnte, das ihn mit üppigem Gehalt und Pensionsanspruch ausstattete. Dazu weiß Götz Aly Erhellendes zu berichten, der seinerzeit am OSI studierte und das - in der Rückschau eher zweifelhafte - Vergnügen hatte auch Agnolis Student zu sein. Die damalige Situation beschreibt Aly so:
Aly, Götz: Unser Kampf 1968. S. 130 [9 Quelle]
Natürlich blieben bei dem solcherart einsetzenden Rattenrennen etliche Professoren alter Schule - sowohl liberale als auch konservative - auf der Strecke, auch davon weiß Aly zu berichten:
ebd., S. 130f., Zitat lt. Fußnote 210 nach: Bude, Heinz: Das Altern einer Generation. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995, S.268.
Ein besonders tragischer, heute weitgehend vergessener Fall war der von Ernst Fraenkel. Der Anwalt jüdischer Herkunft und Widerstandskämpfer im Kreis des Internationalen Sozialistischer Kampfbundes konnte sich in letzter Minute der Verhaftung durch die Gestapo entziehen und emigrierte in die USA. Fraenkel gilt als einer der "Väter" der modernen Politikwissenschaft in der Bundesrepublik. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland Ende April 1951 berief ihn die FU Berlin im Februar 1953 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl Wissenschaft von der Politik, Theorie und vergleichende Geschichte der politischen Herrschaftssysteme. Dort prägte er in den 1950er und 1960er Jahren die Entwicklung der Politikwissenschaft mit und wurde einer ihrer Leitfiguren. Ab Mitte der 1960er Jahre beschäftigte sich Fraenkel kritisch mit der Studentenbewegung und warf ihr demokratiefeindlichen Dogmatismus vor und fühlte sich durch das Verhalten rebellierender Studenten an die 1930er Jahre erinnert, als Rollkommandos der SA Versammlungen politischer Gegner gesprengt und nationalsozialistische Studenten jüdische und demokratische Professoren attackiert hatten. Er bezeichnete bestimmte Aktionsformen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) als "SA-Methoden". Wie einige andere jüdische Wissenschaftler, zum Beispiel Helmut Kuhn, zog Fraenkel eine erneute Emigration in Erwägung und das Ehepaar Fraenkel überlegte, zurück in die Vereinigten Staaten zu gehen. Es waren - am Rande bemerkt - dieselben Erfahrungen, die Hannah Arendt anlässlich ihrer wenigen Besuche an deutschen Universitäten in jenen Jahren machte und die sie darin bestärkten, besser gar nicht erst dauerhaft nach Deutschland zurückzukehren.
Zwar wurden Fraenkel nach seiner Emeritierung im April 1967 mit allerlei Ehrungen bedacht, doch die heftigen Konflikte der vergangenen Jahre setzten ihm gesundheitlich schwer zu. Heute sieht man in Fraenkel einen störrischen, alten Mann, der irgendwie aus der Zeit gefallen war, was auch in den Würdigungen mehr oder weniger direkt so formuliert wird. [10 Quellen und Hinweise] Götz Aly berichtet folgendes:
ebd., 131f.
Soweit zur akademischen Situation, in der sich einer wie Agnoli etablieren konnte, nun zur Theorie des fabulösen "Marxismus-Agnolismus" - ein Kapitel, dessen Darstellung beziehungsweise Erörterung sich als recht schwierig erwies, weil da jenseits demagogischer Clownerie und politischer Propaganda, um es mit Fraenkel zu sagen, schlicht nichts ist. Die erneute Lektüre der Agnolischen Schriften ließ mich ebenso ratlos zurück wie jene vor über 30 Jahren und ebenso wenig wie damals verstehe ich heute die Begeisterung seiner "linken" Fans für diesen groben Unfug, der in Kenntnis um Agnolis Vita und die Quelle und die Quintessenz des Kerns seiner Ideologie doch eher widerlich erscheinen muss. Sei's drum - lassen wir Agnoli selbst zu Wort kommen.
Agnoli. Johannes: Der Staat des Kapitals. S. 22 [11 Quelle]
Agnoli. Johannes: Revolutionäre Strategie und Parlamentarismus. S. 63. Hervorhebung nicht im Original.
Agnolis Anspielung auf die "Kinderkrankheit" des Linksradikalismus bezieht sich auf ablehnende Weise, wie in weiteren Ausführungen Agnolis deutlich wird, auf Lenins Schrift "Der 'Linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus" aus dem Jahr 1920. [12 Quelle]
ebd., S. 68
1. eine eingehende Analyse des Grundgesetzes müßte zunächst klären, ob und in welchem Ausmaß die Entdemokratisierung der Bundesrepublik schon grundgesetzlich intendiert wurde;
2. Weder der Machtwille der Politiker und deren Korrumpierbarkeit noch die Entpolitisierung der Massen sind die Ursachen der Transformation. Diese ist vielmehr notwendig für einen Kapitalismus, der sich zum Versuch eigener Rettung staatlich organisiert. Die Rückkehr zur Reinheit des Grundgesetzes wäre Rückkehr zu den Anfangsbedingungen der Transformation selbst. Es mag sein, daß die Wiederherstellung oder die Verteidigung der Grundrechte eine wesentliche Voraussetzung für den Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung bildet. Grundrechte emanzipieren aber die Massen nicht, solange wir eine bürgerliche Gesellschaft und eine kapitalistische Produktionsweise haben, deren Staat genau für den nicht emanzipatorischen Gebrauch der Grundrechte sorgt.
In den staatlich befriedeten und integrierten Zustand des organisierten Kapitalismus ist vielmehr die politische Wiederherstellung des Antagonismus, und das ist die Aktualisierung des Klassenkampfes und die Desintegration der Gesellschaft, der erste Schritt für die Verwirklichung von Demokratie.«
Agnoli. Johannes: Thesen zur Transformation der Demokratie. S. 139. Hervorhebung nicht im Original. [13 Quelle]
Das soll an Originalton genügen, wer meint, es unbedingt tun zu müssen, kann sich den Quark in Gänze unter den in den Fußnoten angegebenen Links durchlesen. Das letzte Zitat ist in zweierlei Hinsicht besonders interessant. Einerseits ist bemerkenswert, dass die hier zitierte Formulierung antiparlamentarische Organisationen in den Originaltexten aus dem Jahr 1968 zu antikapitalistische Organisationen in den gesammelten Schriften aus dem Jahr 1992 wird. Andererseits gibt es komprimiert den kompletten und später tödlichen Unsinn des Agnolischen Konstrukts wieder. Götz Aly schreibt dazu:
Aly, Götz: Unser Kampf 1968. S. 43
An dieser Stelle ist eine Aussage von Horst Mahler interessant, die exakt das - diese irrsinnige Argumentationslinie - aus der eigenen "revolutionären" Praxis bestätigt. In einem Interview mit Michel Friedman für die, im Februar 2009 eingestellte, deutschsprachige Ausgabe des Magazins Vanity Fair sagte Mahler, als Friedman ihn nach dem Mord an Buback fragte:
Friedman: Deswegen muss man doch nicht Buback in die Luft sprengen. Der hat mit Vietnam so viel zu tun wie eine Kuh mit der Mondlandung.
Mahler: Also sehen Sie, Buback war ein Teil des Apparates, der zur Unterdrückung aller Freiheitsbestrebungen in Deutschland tätig war. Ein Instrument der Fremdherrschaft. Und wenn die Gruppe damals das eingeschätzt hat, dass Buback ein Feind ist, an dem wir diesen Widerstand markieren, dann ist es diese Entscheidung. Aber ich habe schon mal gesagt: im Rahmen einer falschen Strategie.
[...]
Friedman: Nein, ich meine inhaltlich. Wofür haben Sie damals gekämpft? Ich meine das jetzt inhaltlich.
Mahler: Immer für dasselbe, immer für dasselbe.«
Horst Mahler. So spricht man mit Nazis. Ungekürztes Interview mit Michel Friedman. [14 Quelle, Hinweise]
Ebenso interessant ist ein zeithistorisches Dokument - das Kommuniqué des Kommandos "Mara Cagol" der RAF vom 9. Juli 1986 zum Attentat auf Karl Heinz Beckurts. Dies ist ein kleiner, aber für den Duktus und die Ideologie der zweiten Generation der RAF charakteristischer Auszug, das Pamphlet ist zwei Seiten lang und der hier zitierte Auszug sieht im Original so aus.
[15 Quelle]
Die natürlich nicht erst von Agnoli begründete Kontinuität der radikalen Ablehnung der parlamentarischen Demokratie hält bis heute an - freilich mit Unterschieden im Duktus. Während Agnoli seine "revolutionären" Fantasien trotz der erheblichen Redundanz seiner Aussagen recht eloquent in Worte zu setzen wusste, während Horst Mahler sein "Schrifttum" als gelernter Anwalt mit juristischer Effizienz formulieren konnte und es mit Zitaten von Hegel, Schopenhauer und Spengler ausschmückte und während die die zweite Generation der RAF bei der Abfassung ihrer Mord-Pamphlete immerhin den Anschluss an die erste Generation, also insbesondere an Ulrike Meinhof und Andreas Baader, versuchte und sich um eine halbwegs strukturierte Stringenz in der Rechtfertigung ihrer Taten bemühte, ist bei der jüngsten Generation der radikalen und extremistischen Linken, also der Zielgruppe der in Fußnote 1 erwähnten Agnoli-Veranstaltungen, nur noch der blanke Hass - gelegentlich mit Sozialkitsch garniert - übrig geblieben, was sich im Ergebnis beispielsweise so liest:
Wie tief der Agnolis Verachtung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie in der Linken, gemeint ist die Partei, steckt, bewies ein gewisser Tim Fürup anlässlich der Strategiekonferenz der Partei in Kassel 29.02./01.03.2020 auf einer Veranstaltung unter dem Motto "Das Land verändern: für einen sozial-ökologischen Systemwechsel".
[16 Quelle]
Eines ist sicher - die Gevattern Marx und Engels hätten dem Agnoli diesen eklektischen Unsinn, der sehr viel näher an einer Verschwörungstheorie als an einer politischen Analyse ist, mit Schmackes um die Ohren gehauen und bei aller Kritik an den beiden Alten - das haben sie nicht verdient. Man kann es natürlich auch mit Humor nehmen, wie Niklas Luhmann es tat, als er spottete, die 68er Neuradikalen hätten "den halben Marx und die ganze, psychodramatisch erweiterte Frankfurter Schule" miteinander verrührt. Luhmann meinte hier die erste Generation der Frankfurter Schule, der Leute wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Friedrich Pollock und Walter Benjamin zugerechnet werden, also Vertreter aus den Geburtsjahrgängen von 1890 bis 1905. Die zweite Generation, deren bekanntester Vertreter der notorische Dampfplauderer Jürgen Habermas ist und die aus den Geburtsjahrgängen von 1920 bis 1935 hervorging, ist in diesem Kontext nicht relevant, sofern sie das in überhaupt irgendeinem Kontext ist. Die alten Frankfurter hielten zwar immer Distanz zu den sogenannten 68ern und der Neuen Linken, was diese aber nicht davon abhielt, einige der Frankfurter als Säulenheilige zu verehren. Das betrifft insbesondere Herbert Marcuse, dessen Schriften - im Gegensatz zu denen Horkheimers, Adornos und Benjamins - auch für nicht ganz so helle Lampen in der Revolutionslaterne einigermaßen verständlich und eingängig formuliert sind. Nicht nur das - ebenfalls im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno bedachte Marcuse die Studenten mit der gesellschaftlichen und revolutionären Führungsrolle, und das mit exorbitantem Spaßfaktor, womit ich bei den Quellen des fabulösen "Marxismus-Agnolismus" bin.
Marcuses analytische Bemühungen brachten ihn zu dem Schluss, dass es mit dem revolutionären Potenzial der Arbeiterschaft in den entwickelten Industriestaaten nicht mehr allzu weit her wäre, was daran läge, dass - zumindest prinzipiell - die Frau des Arbeiters mittlerweile die gleiche modische Kleidung trägen könnte wie die Gattin des Expropriateurs ihres an der Maschine schuftenden Mannes, der - ebenfalls zumindest prinzipiell - das gleiche Auto fahren konnte wie sein Ausbeuter. Marcuse nannte das "repressiver Toleranz" und sprach von der "sublimen Gewalt" tagtäglicher Manipulation. Die Arbeiterschaft hinge an den "goldenen Fäden der Bewusstseinsindustrie", die einzig und allein die Aufgabe hätte, den arbeitenden Menschen von seinen "wirklichen Bedürfnissen" zu entfernen, womit auch sein revolutionäres Potenzial perdu wäre. Ein Sieg des Kapitals auf ganzer Linie also - wenn nicht andere das Banner der Revolution aufnähmen und vorantrügen, und zwar jene, welche in der Lage wären, diese komplexen Manipulationsmechanismen zu durchschauen und zu durchbrechen. Marcuses analytische Anstrengungen ließen ihn nämlich auch schlussfolgern, dass die mäßig gebildeten Menschen nicht in der Lage sind, diese Zusammenhänge zu erkennen und dass dies allenfalls Intelligenzler in den hochentwickelten Ländern könnten. Agnoli hat mit Sicherheit Versatzstücke aus Marcuses Gedankengebäude übernommen, in welchem Umfang lässt sich schwer sagen. Auf jeden Fall finden sich die Ideen von der "repressiver Toleranz" und und der "sublimen Gewalt" bei Agnoli wieder. Ergänzt wurde das mit der Vulgärinterpretation einiger Marxscher Thesen und Theoriefragmente. Das entstandene Gebilde des "Marxismus-Agnolismus" argumentiert ungefähr so:
Das Volk als solches und in Gänze wäre nicht wahrhaft demokratie-, geschweige denn regierungsfähig, also würden durch das Konstrukt der repräsentativen Demokratie einige Wenige zum Entscheiden und Handeln für resp. über alle anderen legitimiert. Das wiederum hätte einen Wandel der politischen Strukturen zur Folge, indem sich die politischen Akteure, also die Wenigen und ihre organisatorischen Strukturen in Gestalt der Parteien sowie Legislative, Judikative und Exekutive sich in autoritäre, vor- oder gar antiparlamentarische Formen zurückentwickelten. Initiator und Motor dieser Entwicklung wäre das Kapital, das auf diesem Wege die Durchsetzung seiner Interessen realisieren und perfektionieren und das erreichen wollte, was es mit dem ersten Faschismus-Durchlauf nicht schaffte - was immer das auch sein mochte, darauf ging Agnoli nicht ein. Hinter dieser Re-Faschisierungsthese steht Georgi Dimitroffs Faschismusmodell, das diesen als terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" definierte, womit gemeint war, dass die bürgerliche Demokratie und der Faschismus lediglich zwei verschiedene Ausprägungen des Kapitalismus wären. [17 Hinweise] Diese, aus Dimitroffs Zeit heraus zwar verständliche, aber deutlich zu unterkomplexe Erklärung erfreute sich zu Agnolis Zeit in der APO und bei der radikalen Linken großer Beliebtheit. Sie war die argumentative Basis der Behauptung, die Bundesrepublik wäre im Kern faschistisch, weswegen die außerparlamentarischen Opposition keine andere Wahl hätte, als den antiparlamentarischen Kampf zu führen, da jede innerparlamentarischer Opposition nutzlos oder gar kontraproduktiv wäre. Denn wenn das Parlament in diesem Prozess der Re-Faschisierung selbst antidemokratisch würde, müsste der Kampf für Demokratie antiparlamentarisch geführt werden. Im Kontext dieses Prozesses wären die bürgerlichen Freiheiten wie Parteienpluralismus, Pressefreiheit, stetig steigender Wohlstand der arbeitenden Klassen nebst Konsumangebot und auch die Freiheiten der Marxisten in den akademischen Elfenbeintürmen nichts als alles eine perfide Täuschung als Herrschaftstechnik aus dem Kalkül der herrschenden Klasse heraus, den faschistisch Kern der Bundesrepublik als System zu etablieren.
Soweit ein kurzer Abriss der Agnolischen Ideologie - und viel mehr gibt es dazu aus inhaltlicher Sicht auch nicht zu sagen resp. zu schreiben. Eine Analyse der sozialpolitischen Geschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die diesen Namen verdient, findet sich bei Agnoli genauso wenig wie eine gesellschaftspolitische Alternative zu dem, ihm so verhassten bestehenden System. Stattdessen ergeht er sich in Worthülsen und Floskeln wie die von der "Befreiung der Arbeit" oder von der "konkreten Emanzipation" und der "konkret verstandenen Demokratie", an denen schlicht nichts konkret ist. Kraushaar schreibt dazu: »Seine Kritik bleibt in der bloßen Negation stecken. Er vermag keine handlungspolitische Option zu formulieren. Ebenso wenig wie er eine Vermittlung seiner Resultate in eine konstruktive Kritik der repräsentativen Demokratie erkennen lässt, findet sich bei ihm eine Übersetzung seiner verfassungsrechtlichen Analysen in praxisorientierte Alternativkonstruktionen.« (vgl. Fußnote 7, S. 171) Die repräsentative Demokratie und die bürgerlichen Freiheiten sind Agnoli nichts anderes als Herrschaftsinstrumente, um den Faschismus diesmal mit Verblendung, Bewusstseinsmanipulation und Kulturindustrie statt mit Gewalt und Terror durchzusetzen - quasi eine kommode Variante des Faschismus.
Dass um das Jahr 1968 herum die zweite industrielle Revolution in vollem Gange war - der Zeitpunkt ihres Beginns wird je nach wirtschaftsgeschichtliche Schule verschieden angesetzt - und dass sich die dritte industrielle Revolution mit der Entwicklung der Mikroelektronik und der Digitaltechnik langsam am Horizont sichtbar wurde, zumindest für jene, welche die Zeichen der Zeit zu lesen verstanden, ignorierten Agnoli und praktisch die gesamte linke Intelligenzija in Westeuropa. (In den USA war es anders, wo sich zu jener Zeit erhebliche Teile der im weiteren Sinne linken Intelligenz in Silicon Valley sammelten und eine Revolution der ganz anderen Art in Gang setzten, welche die Welt tatsächlich umkrempelte.) Dass der klassische "doppelt freie Lohnarbeiter" gerade dabei war, sich in den "dreifach freien Konsumenten", wie ich ihn nenne, zu verwandeln und somit aus der Wirtschaftsgeschichte der entwickelten Industrieländer zu verschwinden, bemerkten Agnoli und seine Genossen offenkundig nicht. In den zwanzig Jahren von 1960 bis 1980 sank der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Nettowertschöpfung in Deutschland von 61 auf 43,5 Prozent, während der von Handel und Dienstleistungen von 27,5 auf 38,7 Prozent anstieg. Auch diese Tatsache blieb Agnoli und Genossen offensichtlich verborgen. [18 Quelle, Hinweise]
Den Prozess der "Transformation der Demokratie" in ein autoritäres Herrschaftssystem als eine Abfolge historischer Rückschritte bezeichnet Agnoli als "Involution". Agnoli schrieb 1986 in seinem Text "Zwanzig Jahre danach. Kommemorativabhandlung zur 'Transformation der Demokratie'" (TdD): »Das könnte bedeuten, daß in der Tat der Involutionsprozeß sich umgekehrt und sich umtransformiert hat in einen Evolutionsprozeß, der uns zu neuen Ufern der Emanzipation führt. [...] Die Involution ist weder eine Erfindung der TdD noch eine westdeutsche Erscheinung.« [19 Quelle]
Wohl wahr, sicher nicht der "TdD", aber woher stammt der Begriff? Es ist unwahrscheinlich, dass Agnoli ihn aus der Mathematik, wo er eine eine selbstinverse Abbildung meint, oder aus der Biologie adaptierte, wo er die Wandern einer Zellschicht beschreibt. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass Agnoli den Begriff der Involution der Medizin entlehnte, wo er eine spontane Rückbildung von Organen bezeichnet, denn in solchen Fällen war seit Menschengedanken noch nie eine anschließende Evolution zu beobachten. So aber wollte Agnoli den Begriff der Involution verstanden wissen - als Rückbildungsprozess, der eine Neubildung auf höherer Stufe, eine Evolution also, ermöglicht. Weil Agnoli und seine Adepten und Epigonen die einzigen sind, die den Begriff Involution deskriptiv und definierend in einem politikwissenschaftlichen Kontext verwenden, bleiben als mögliche Quellen nur die christliche Mystik, konkret die Philosophia perennis, die "ewige Philosophie", und der westliche Okkultismus sowie die westliche Esoterik, namentlich die Theosophie nach Helena Blavatsky et al., wo der Begriff exakt das beschreibt, was Agnoli - angewandt auf die politische Praxis - darunter verstand. Ich bezweifle allerdings, dass Agnoli Blavatskys "The Secret Doctrine" ("Die Geheimlehre") aus dem Jahr 1888 gelesen hatte, es ist sicher wahrscheinlicher, dass er einen anderen, allerdings auf Distanz gebliebenen, Freund des Faschismus studierte - den Kulturphilosophen und Esoteriker Julius Evola, mit dem Agnoli sein Faible für Deutschland, das nationalsozialistische insbesondere, gemeinsam hatte. [20 Hinweise] Von ihm könnte Agnoli den Begriff der Involution übernommen haben, was seiner Ideologie eine kuriose Note gibt.
Das Verhältnis Involution - Evolution ist ein recht komplexes, mystisches Konstrukt, das nicht so leicht zu erklären ist, zumindest nicht für Leser, die weder mit Mystik noch mit Esoterik vertraut sind. Die ohne Vorkenntnisse einleuchtendste Erklärung habe ich bei Ken Wilber gefunden, dem vielleicht bekanntesten Vertreter der modernen integralen Theorie. (Abfall ist hier nicht als Synonym für Müll gemeint, sondern als Lossagung oder als Auflösung einer bestehenden Bindung.)
Wilber, Ken: Das Wahre, Schöne, Gute. S. 64, 71. Hervorhebung im Original. [21 Quelle, Hinweise]
Diese Korrelation zweier, auf den ersten Blick völlig verschiedenen Zusammenhänge in einem Begriff ist kurios, weil auf den zweiten Blick sehr wohl eine Gemeinsamkeit deutlich wird. Außer in den sehr konkreten, oben angeführten wissenschaftlichen Bereichen wird der Begriff Involution lediglich (und hauptsächlich) im mystisch-esoterischen Bereich verwendet, also in einem Kontext, der in Bereichen und Gruppierungen relevant ist, die landläufig "Sekten" genannt werden. Agnolis Ideologie ist aus marxistischer Sicht "sektiererisch", das heißt, seine, nun ja, Interpretation des Marxismus ist eine individualistische, eklektische Abweichung von der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus - kurz: Sektierertum.
Bleibt noch die Quelle der Verachtung Agnolis für die repräsentative parlamentarische Demokratie zu klären und die ist im Bezug auf seinen Spiritus Rector Vilfredo Pareto zu finden. [22 Hinweis] Pareto war zwar - so die Bedeutungen eines Spiritus Rector - kein führender, aber ein lenkender Geist für Agnoli. Lenkend war Pareto für Agnoli dergestalt, dass Agnoli Paretos zentrale These zur parlamentarischen Demokratie übernahm und sozusagen auf links wendete. Er nahm Paretos Rat an Mussolini für die absolute und endgültige Wahrheit in Sachen parlamentarische Demokratie und verallgemeinerte ihn auf alle demokratischen Systeme in den entwickelten westlichen Industrieländern. Agoli schreibt dazu:
Agnoli, Johannes: Thesen zur Transformation der Demokratie - ad usum des RC. [23 Quelle]
Mussolini hielt offenbar große Stücke auf Pareto und hat sich mehrfach geradezu enthusiastisch über dessen Einfluss auf sein Weltbild und seine politischen Vorstellungen geäußert, so zum Beispiel auf einer Großkundgebung im Teatro Constanzi am 23. März 1924 in Rom als "uno dei miei maestri, il pi illustre" ("einer meiner Lehrer, der berühmteste") bezeichnet, im Herbst des gleichen Jahres berief sich Mussolini erneut und ausdrücklich auf einer Tagung der italienischen Volkswirtschaftslehrer bei der Erläuterung seiner politischen Ziele auf Pareto. Gleichwohl eine persönliche Begegnung Mussolinis mit Pareto nicht überliefert ist, wird in der Politik- und Geschichtswissenschaft als gesichert angesehen, dass Mussolini einiges in die politische Praxis umsetzte, was Pareto dachte und niederschrieb. Überliefert ist Agnolis Schwärmerei für Repubblica Sociale Italiana, "ein faschistischer Satellitenstaat in Norditalien unter der militärischen Protektion des Deutschen Reichs, dessen Territorium sich auf das deutsche Besatzungsgebiet beschränkte" [Wikipedia, 24 Quelle])
Natürlich hat niemand besser das aus der Geisteshaltung eines Agnoli resultierende Dilemma der Linken beschrieben, als Hannah Arendt das tat. Sie brachte das Problem exakt auf den Punkt und beschrieb auch Paretos Rolle sehr deutlich.
Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. S. 66 [25 Quelle]
ebd. S. 72
Hannah Arendt schrieb der Linken auch einige Worte zum Grundproblem ihrer ideologischen Scheuklappen ins Stammbuch. Arendts Anmerkung, die Linke versuche das zwanzigste Jahrhundert in den Kategorien des neunzehnten zu verstehen, kann man getrost auf das einundzwanzigste Jahrhundert übertragen.
ebd. S. 27f.
Schließlich sei noch Arendts Anmerkung zur politischen Praxis der Linken zitiert, die sich in Teile derselben noch heute in Theorie und Praxis - siehe Connewitz - findet. Das Buch brachte - mehr noch als "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" - Hannah Arendt den vermutlich unsterblichen, zumindest bis heute virulenten Hass der Linken ein, wobei ich feststellte, dass nur ein Bruchteil derselben Arendt gelesen hatte. Heute tut es wahrscheinlich gar keiner von denen mehr.
ebd. S. 99, Exkurs 12 zu S. 66f.
Als eine Art Nachwort noch dies: Ich debattierte seinerzeit, als ich in Westberlin ab Herbst 1987 bis etwa Sommer 1994 in einer kommunistischen Kaderpartei trotzkistischer Prägung mehr oder weniger aktiv war - nach dem Hinscheiden der DDR wechselten viele Mitglieder in die PDS, wodurch die Partei so nach und nach entschlief - mit einigen Genossinnen und Genossen über Agnolis Aktualität und Relevanz. Die Haltung war gespalten, jeweils zur Hälfte wurde Agnoli entweder für Blender ohne Relevanz oder aber, so die andere Hälfte, für höchst wichtig im revolutionären Kampf gehalten, weil er ja quasi, so die Begründung für letztere Meinung, eine Art permanenter Revolution nach Trotzkis Verständnis propagierte. Ich war schon damals auf der Seite derer, die Agnoli rundweg ablehnten. Nach einer erneuten Lektüre dreißig Jahre später, mitten in der dritten industriellen Revolution und die vierte am Horizont heraufdämmern sehend, ist meine seinerzeitige Haltung bestätigt. Mehr noch - während ich damals Agnoli beste Absichten (seine Vergangenheit war uns unbekannt) bei unterdurchschnittlicher analytischer Begabung zugute hielt, halte ich ihn heute - seit geraumer Zeit um seine Vergangenheit wissend - für einen eitlen Schwätzer mit fataler Wirkung auf und für die Linke. Im Grunde - das ist allerdings Spekulation - versuchte er vermutlich nur, hinreichend viel Text zu hinterlassen, um in einer Reihe mit seinen Idolen Kant, Hegel und Marx in den Bibliotheken und Bücherregalen der Genossen zu stehen, was er mit einem rundum versorgten Posten im ihm so verhassten System, ausgestattet mit bestem Salär und Pensionsanspruch bei minimaler Verantwortung, schaffen wollte. Letzteres immerhin gelang ihm, weil er zur richtigen Zeit die richtigen Leute kannte.
Was die heute sich als "links" Verstehenden und Ausgebenden angeht - die lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Die eine Gruppe bilden die, welche erkannten, dass man im System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie nebst Marktwirtschaft in den globalistisch-liberalistischen Zeiten seine hedonistischen Partialinteressen erfolgreich durchsetzen kann, wenn man nur hartnäckig genug darauf besteht, es darüber hinaus versteht, sich eine Lobby für selbige zu organisieren und diese Interessen als per definitionem oder axiomatisch progressiv, sozialpolitisch unerlässlich und deshalb gesamtgesellschaftlich nützlich im medialen und gesellschaftlichen Mainstream zu etablieren. Wenn das geschafft ist, fließt heutzutage die von Tim Fürup eingeforderte "Staatsknete" ganz von alleine. In dieser Gruppe finden sich erhebliche Teile der Grünen und größere Teile der Linken, gemeint ist die Partei, nämlich ihre Funktionsträger. In dieser Gruppe sind ebenso Gender- und LGBT-Aktivisten und Vereine wie jener der feinen Frau Kahane oder das "Zentrum für Politische Schönheit" bis hin zu Fücks' "Zentrum Liberale Moderne" präsent. Der Nachwuchs wird sich aus "Fridays for Future" und YouTube-Influencern rekrutieren. Dieser Gruppe gehen Politprediger wie Agnoli gepflegt am Allerwertesten vorbei, so etwas brauchen die nicht, denn der wollte das abschaffen, was die Grundlage ihrer Existenz ist.
Die andere, deutlich kleinere Gruppe schaffte - aus welchen Gründen auch immer - den Anschluss an das parlamentarisch-demokratische Interessenbefriedigungs- und Geldverteilungssystem (von ALG II abgesehen) nicht und ist quasi beidseitig, nämlich vom bürgerlich etablierten Teil der Gesellschaft als auch von der liberalistisch-hedonistischen "Linken", abgehängt, so dass sie unter Anleitung und Führung einiger Berufsrevoluzzer - ich bitte um Entschuldigung, ich meine natürlich Berufsrevoluzzer*innen - immer mal wieder den Aufstand nach den, schon in den 1970er Jahren als absolut untauglich erwiesenen Rezepten und Methoden, proben will. Aus diesem Kreis, den Marx vermutlich dem "Lumpenproletariat" zugerechnet hätte, rekrutieren sich Agnolis heutige Adepten, Eleven und Epigonen. Das Ergebnis ist - beide Teile in Summe betrachtet - ein Trauerspiel - nein, eine Groteske, denn zu trauern gibt es da nichts. Leider auch nichts zu lachen - wenn man sich den beiden alten, weißen CIS-Männern Marx und Engels verbunden fühlt.
Fußnoten und Quellen
Zur Aktualität von Agnolis "Transformation der Demokratie" https://www.conne-island.de/termin/nr5284.html
Referat "Staat des Kapitals von Agnoli" https://www.conne-island.de/termin/nr5667.html
Wir suchen die direkte Konfrontation - Bullen angreifen https://de.indymedia.org/node/58746
Indymedia Leipzig https://de.indymedia.org/taxonomy/term/102
Indymedia Berlin https://de.indymedia.org/taxonomy/term/56
Der Reader als PDF https://www.rosalux.de/.../Demirovic_Transformation.pdf
Kraushaar, Wolfgang: Agnoli, die APO und der konstitutive Illiberalismus seiner Parlamentarismuskritik. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen ZParl, 38. Jahrgang 2007, Heft 1, S. 160-179.
PDF-Version des Textes https://www.zparl.nomos.de/.../ZParl_07_01.pdf
Internationaler Sozialistischer Kampfbund bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Sozialistischer_Kampfbund
Eine, wenn es denn so nennen will, Würdigung Fraenkels auf der Netzseite der FU Berlin https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/...
Zitiert nach: Agnoli, Johannes: Gesammelte Schriften. Band 2. ça ira-Verlag, Freiburg, 1992
PDF des Textes http://www.kommunismus.narod.ru/.../Johannes_Agnoli...
Zitiert nach: Agnoli, Johannes: Gesammelte Schriften. Band 2. ça ira-Verlag, Freiburg, 1992
PDF des Textes http://www.kommunismus.narod.ru/.../Johannes_Agnoli...
Lenin: Der "Linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/
Zitiert nach: Agnoli, Johannes: Gesammelte Schriften. Band 2. ça ira-Verlag, Freiburg, 1992
PDF des Textes http://www.kommunismus.narod.ru/.../Johannes_Agnoli...
Horst Mahler bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Mahler
Sylvia Stolz bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Sylvia_Stolz
Michel Friedman bei Wikipedia ttps://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Friedman
Vanity Fair bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Vanity_Fair_(Magazin)
Kommentar Süddeutsche Zeitung 17.05.2010 https://www.sueddeutsche.de/politik/interview-mit-michel-friedman...
Kommentar Spiegel online 04.11.2007 https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tabubruch-bei-vanity-fair...
Es gibt im Netz ein Memento des Interviews, ich verlinke es hier mit Absicht nicht.
Karl Heinz Beckurts bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Heinz_Beckurts
Margherita Cagol bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Margherita_Cagol
Georgi Dimitroff lieferte diese Definition für einen Beschluss des XIII. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Dezember 1933, sie wurde auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 bestätigt.
Kommunistische_Internationale bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Internationale
Dritte industrielle Revolution bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Revolution
Lohnarbeit (marxistische Theorie) bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Lohnarbeit...
Ich weiß nicht genau, ob andere Autoren den Begriff vom "dreifach freien Konsumenten" ebenfalls benutzen, ich habe im deutschsprachigen Raum jedenfalls kein Beispiel gefunden. Der Begriff bedeutet ergänzt die Faktoren des doppelt freien Lohnarbeiters, nämlich das Recht, seine Arbeitskraft auf dem Markt anbieten und den Lohn je nach Marktkonditionen frei aushandeln zu können und zugleich vom Eigentum an Produktionsmitteln "befreit" zu sein, um den Faktor der sukzessiven Befreiung von allen Bindungen und Werten (wenn man das als Befreiung sehen will) und verschiebt das Gewicht von seiner Funktion in der Produktion auf seine wirtschaftspolitisch immer bedeutender werdende Rolle als Konsument. Das
Statista: Anteil Wirtschaftssektoren an der Nettowertschöpfung in Deutschland 1850 bis 1989
https://de.statista.com/.../anteil-der-wirtschaftssektoren...
Theosophie bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Theosophie
Helena_Petrovna_Blavatsky bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Helena_Petrovna_Blavatsky
Julius Evola bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Evola
Ken Wilber bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Ken_Wilber
Originalausgabe: On Violence. Harcourt Brace & World Inc., New York 1970, erste deutsche Auflage Piper TB, München, Zürich 1970. Arendts "Macht und Gewalt" bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Macht_und_Gewalt